Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
hilft wenigen, löst aber bei vielen unnötige Angst aus.
Die Vorsorgeuntersuchung auf Krankheiten aller Art gehört heute zur gängigen medizinischen Praxis in den Vereinigten Staaten. Sie ist eine natürliche Folge unserer Begeisterung für die Früherkennung. Immer mehr Menschen hören von ihrem Arzt, dass sie oder ihre Babys eine Anomalie haben. Gewiss, einigen wird geholfen. Aber manchmal wissen wir, dass die Zahl derer, die von Vorsorgeuntersuchungen profitieren, extrem klein ist, und manchmal ist sie so klein, dass nicht einmal große Studien mit Tausenden von Patienten sie bestimmen können. Noch häufiger wissen wir nicht genau, ob die Früherkennung überhaupt einen Nutzen hat. Dennoch konzentrieren wir uns beharrlich auf frühe Diagnosen und versäumen es ziemlich oft, Überdiagnosen in Betracht zu ziehen.
Kapitel 9
Wir verwechseln DNS mit Krankheit
Wie Gentests Ihnen fast jede Krankheit anhängen
Ich schätze die Genetik wirklich. In der Highschool machte es mir Spaß, die Wahrscheinlichkeit verschiedener Genotypen zu berechnen. Dabei stützte ich mich auf die einfachen Regeln, die Gregor Mendel entdeckte, als er Erbsen anbaute. Auf dem College faszinierte mich die Entdeckung, dass der Selektionsdruck, den eine einzige sehr häufige Infektionskrankheit (Malaria) ausübt, das Fortbestehen bestimmter Infektionskrankheiten (Sichelzellenanämie, Favismus durch Mangel an Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase) beim Menschen sogar begünstigt. Und an der Universität war ich gefesselt von den Vorgängen um die DNS: wie die Doppelhelix reproduziert wird; wie DNS zu RNS transkribiert wird, sodass Proteine entstehen; wie DNS rekombiniert wird, sodass wir einen Teil der DNS unserer Mutter und unseres Vaters an unsere Kinder weitergeben; und wie andere Lebensformen (Viren) sie ausbeuten, um unsere Zellen für sich arbeiten zu lassen. 1 Genetik ist eine wundervolle Mixtur aus Mathematik, Evolutionsbiologie und Biochemie. Sie ist wirklich interessant.
Viel weniger begeistert bin ich davon, die Gene gesunder Menschen zu testen. Manche Leute glauben, Gentests seien der Weg zu optimaler Gesundheit. Sie helfen uns bereits heute, maßgeschneiderte Therapien für Individuen zu entwickeln, und wahrscheinlich werden sie eines Tages noch besser vorhersagen, wie Patienten auf verschiedene Medikamente ansprechen. Die Gentherapie – Eingriffe in die DNS zur Behandlung von Krankheiten – könnte sich unter bestimmten Umständen als echtes medizinisches Heilverfahren herausstellen. Aber es ist durchaus möglich, dass Gentests der Gesundheit vieler Menschen schaden.
Zahlreiche Firmen entnehmen Ihnen heute schon Ihre DNS (und Ihr Geld) und sagen Ihnen die Zukunft voraus. Eine dieser Firmen, 23andMe, verspricht, »die Geheimnisse Ihrer DNS aufzudecken«, während Navigenics Sie auffordert, sich testen zu lassen und »alles zu tun, was Sie können, um gesund zu bleiben«. Und deCODEme hofft, dass Gentests »die Menschen veranlassen, das Richtige zu tun«. Diese kommerzialisierten Gentests dienen scheinbar der Gesundheit; aber meiner Meinung nach führen sie zu Überdiagnosen. Die Diagnose, um die es hier geht, gilt nicht einer Krankheit, sondern einer genetischen Disposition (Veranlagung) für eine Krankheit. Kurz gesagt, Gentests suchen nach genetischen Risikofaktoren. Da jeder Mensch mit irgendwelchen Risiken leben muss, macht diese Strategie buchstäblich jeden krank.
Wir haben bereits Gentests, die nach Dispositionen für zahlreiche Krankheiten suchen – mehr, als ich hier besprechen kann. Und da wir uns mitten in einer Explosion der Genforschung befinden, wird es zweifellos noch mehr Tests geben, wenn Sie dieses Buch lesen. Aber die grundlegenden Fragen, die Gentests aufwerfen, werden sich nicht ändern; es sind die gleichen, die wir immer stellen sollten, wenn es um Früherkennung geht: Wie viele Menschen werden unnötigerweise erfahren, sie seien irgendwie anormal? Und was werden wir ihnen antun?
Die Vision: Eine Bestandsaufnahme des Genoms
Stellen Sie sich vor, dass eines Tages jeder junge Erwachsene sein Genom (Erbgut) untersuchen lässt, um herauszufinden, ob er eine Veranlagung für Herzkrankheiten, psychische Störungen, Diabetes oder Krebs hat. Nehmen wir nun an, Sie sind eine gesunde zwanzigjährige Frau, die sich ihrem ersten Genom-Scan unterzieht. Sie spucken in einen speziellen Becher – ja, auch Ihr Speichel enthält Ihre Gene – und schicken ihn an eine von mehreren Firmen, die Gene untersuchen. Ein paar Wochen
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