Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Einigkeit darüber, dass fast alle Unterschiede die Folge der Interaktion zwischen Genen und Umweltfaktoren sind. Auch das Glück oder der Zufall mischen mit. Die gleichen Genotypen in derselben Umwelt können ziemlich unterschiedliche Menschen hervorbringen.
Das führt uns zu einer wichtigen Unterscheidung, die auch für Gentests bedeutsam ist: zum Unterschied zwischen Genotyp und Phänotyp. Der Mensch, den andere sehen – Ihre körperlichen und biochemischen Eigenheiten sowie Ihr Verhalten –, ist der Phänotyp. Sie nehmen nicht Ihren Genotyp wahr, sondern Ihren Phänotyp. Die Kombination aus Genotyp, Umwelt und Zufall bestimmt Ihren Phänotyp.
Gentests versuchen, Ihren Phänotyp allein anhand Ihres Genotyps vorherzusagen. Nun besteht zwar kein Anlass dafür, mit einem Gentest einen Aspekt Ihres Phänotyps vorherzusagen, den Sie bereits kennen – Sie brauchen zum Beispiel keinen Gentest, um herauszufinden, ob Sie blaue Augen haben –, aber einige Gentestanbieter werben dennoch für Tests dieser Art. Sie behaupten, sie könnten mithilfe eines Gentests feststellen, ob Sie Milchprodukte vertragen, Rosenkohl mögen oder Probleme mit dem Ohrenschmalz haben.
Es gibt tatsächlich ein Gen, das etwas damit zu tun hat, ob Rosenkohl Ihnen schmeckt. Vielleicht haben Sie dieses Gen, vielleicht nicht. Nun ist zwar Ihr Genotyp ein wichtiger Faktor bei der Entwicklung Ihres Phänotyps, aber er ist nicht der einzige. Vielleicht haben Ihre Eltern Ihnen beigebracht, Rosenkohl zu verabscheuen. Oder Sie haben Ihre Erfahrungen mit diesem Gemüse nur in der Schulkantine und nur mit warmen Speisen gesammelt. Vielleicht haben Sie nie gut zubereiteten Rosenkohl probiert – frisch geerntet, leicht gedünstet und dann mit Knoblauch, Senf und Walnüssen kurz angebraten (aus irgendeinem Grund habe ich in meinen ersten drei Lebensjahrzehnten keinen Rosenkohl gegessen … entschuldige, Mama). Aber wenn Sie Rosenkohl nicht mögen, kümmert es Sie dann wirklich, ob die Umwelt oder die Gene daran schuld sind? Und wenn Rosenkohl Ihnen schmeckt, würden Sie aufhören, ihn zu essen, wenn Sie erführen, dass Ihnen das Rosenkohl-Gen fehlt? Genetiker sind die Ersten, die darauf hinweisen, dass der Phänotyp den Genotyp übertrumpft. 3
Wer abnorme Gene hat, muss nicht krank sein
Der einzige zwingende Grund, den Genotyp eines gesunden Menschen zu bestimmen, ist die Vorhersage des Phänotyps. Es geht also um die Frage, ob ihm bestimmte Krankheiten drohen und ob er diese an seine Kinder vererben kann. Aber was für individuelle Merkmale gilt, das gilt auch für Krankheiten. Manche Krankheiten entwickeln sich nur dann, wenn bestimmte Gene vorhanden sind oder fehlen; aber die meisten Krankheiten spiegeln die Wechselwirkung zwischen Genom, Umwelt und reinem Zufall wider. Die Öffentlichkeit (ganz zu schweigen von den Ärzten) kann leicht in eine Falle tappen und eine genetische Anomalie mit einer Krankheit gleichsetzen. Manche Genotypen sagen tatsächlich fast unfehlbar voraus, bei welchen Individuen sich bestimmte Phänotypen ausbilden werden; andere sind bestenfalls schlechte Indikatoren. Die prozentuale Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmter Genotyp den Phänotyp ausbildet, heißt Penetranz. Die Penetranz gibt also an, wie oft ein bestimmtes Gen in einer Gruppe von Individuen seine Wirkung entfaltet.
Nur bei wenigen genetischen Anomalien beträgt die Penetranz fast 100 Prozent. Ein klassisches Beispiel ist die Mukoviszidose, eine Krankheit, die in der Kindheit ausbricht und die Sekretion in den Lungen, in der Leber, im Pankreas und im Darm stört. Die meisten Menschen mit dieser Krankheit werden nicht älter als vierzig. Die Mukoviszidose ist eine autosomal-rezessive Erbkrankheit: Wenn Sie von einem Elternteil das abnorme Gen und vom anderen ein normales Gen geerbt haben, sind Sie zwar Träger, werden aber nicht krank. Wenn Sie jedoch das Pech haben, von beiden Elternteilen das abnorme Gen geerbt zu haben, ist es fast sicher, dass die Krankheit sich bei Ihnen entwickelt. 4
Ein anderes Beispiel für eine eindeutig genetische Anomalie ist die Huntington-Krankheit, eine degenerative neurologische Krankheit, die in der Lebensmitte ausbricht und zuckende, unwillkürliche Bewegungen auslöst, aber auch die geistigen Fähigkeiten beeinträchtigt. Eine Therapie gibt es nicht. Die Huntington-Krankheit ist eine autosomal-dominante Erbkrankheit; das heißt, Sie brauchen das abnorme Gen nur von einem Elternteil zu erben, damit die Krankheit sich
Weitere Kostenlose Bücher