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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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entwickelt. In der mendelschen Genetik ist auch diese Krankheit ein Klassiker, nämlich eine autosomal-dominante Krankheit mit fast 100 Prozent Penetranz.
    Die Penetranz der meisten Erbkrankheiten liegt jedoch deutlich unter 100 Prozent. Selbst die gefährlichen, mit Brustkrebs zusammenhängenden Gene BRCA1 und BRCA2 sagen ein Brustkrebsrisiko voraus, kein unabwendbares Schicksal. Penetranzschätzungen reichen von 30 bis 70 Prozent. 5 Das ist die Wahrscheinlichkeit, im Alter von siebzig Jahren an Brustkrebs zu erkranken, nicht das Sterberisiko. Da diese Schätzungen eher für Frauen gelten, die sowohl die abnormen Gene besitzen als auch familiär stark vorbelastet sind, könnte die Penetranz der Gene bei Frauen ohne familiäre Belastung geringer sein. Wer die beiden Gene nicht besitzt, ist vor Brustkrebs nicht geschützt; das Risiko ist ungefähr durchschnittlich hoch – das heißt, die Wahrscheinlichkeit, im Alter von siebzig Jahren zu erkranken, beträgt rund 10 Prozent –, weil die weitaus meisten Brustkarzinome (über 95 Prozent) nichts mit den BRCA-Genen zu tun haben. 6 Sie kommen vielmehr sporadisch vor und spiegeln die Wechselwirkungen zwischen anderen Risikofaktoren und die Rolle des Zufalls wider. 7
    Viele abnorme Gene haben sogar eine niedrigere Penetranz. Das Spektrum reicht von vollständiger Penetranz über hohe Penetranz bis zu niedriger Penetranz. Und je mehr wir über das Genom lernen, desto klarer wird uns, dass vollständige und hohe Penetranz relativ selten vorkommen und dass die meisten genetischen Informationen wenig mit der Entwicklung einer Krankheit zu tun haben.

    Abbildung 9.1 Das Spektrum der Penetranz von Krankheitsgenen
    Dieses Penetranzspektrum beginnt die Sprache der Genetiker zu beeinflussen. Manche sind der Meinung, der Begriff Genmutation bedeute Gewissheit und solle daher für hoch penetrante Gene vorbehalten bleiben. Für Gene mit niedrigerer Penetranz bevorzugen die Genetiker die Begriffe Genvariante und genetische Aberration (Abweichung). 8 Die Basis des Spektrums bilden Genvarianten, die so schwach penetrant sind, dass wir die Testergebnisse für mehrere Varianten (an verschiedenen Punkten des Genoms) kombinieren müssen, um zuverlässige Vorhersagen über den Phänotyp machen zu können.
    Wir lernen zwar jeden Tag mehr über das Genom, aber die meisten neuen Informationen betreffen schwach penetrante genetische Varianten. Der Grund dafür ist einfach: Vollständig penetrante Krankheitsgene sind seit Jahrzehnten bekannt. Wir mussten nicht die DNS lesen, um die Erbanlagen der Mukoviszidose und der Huntington-Krankheit zu verstehen. Dass es sich hierbei um Erbkrankheiten handelt, wurde schon in den 1930er-Jahren und in den 1870er-Jahren gefolgert. 9 Vollständig penetrante Krankheitsgene sind die tief hängenden Früchte der Genetik, weil sie lediglich ein Studium des Stammbaums erfordern. Wenn Ihr Vater, der Vater Ihres Vaters, zwei von drei Brüdern und die Hälfte Ihrer Vettern eine seltene Krankheit haben, ist ziemlich offensichtlich, dass es sich um eine Erbkrankheit handelt. Das meiste, was wir heutzutage entdecken, ist viel weniger offenkundig, weil sich am Stammbaum nicht ablesen lässt, ob Erbkrankheiten vorliegen. Um das herauszufinden, brauchen wir sorgfältig geplante Studien, an denen Hunderte oder gar Tausende von Menschen teilnehmen.
    Überdiagnosen und Penetranz sind umgekehrt aufeinander bezogen. Je weniger penetrant ein Gen ist, desto mehr Überdiagnosen gibt es, weil die meisten Menschen mit niedrig penetranten Genen die Krankheit nicht bekommen.
Fallstudie: Eine Erbkrankheit stört den Eisenstoffwechsel
    Erbliche Hämochromatose ist eine genetisch bedingte Krankheit, die dazu führt, dass zu viel Eisen aus dem Essen resorbiert wird. Das überschüssige Eisen sammelt sich im ganzen Körper an, im Herzen, in der Leber, im Pankreas, in den Nebennieren sowie im Stütz- und Bewegungsapparat. Dies ist eine der Krankheiten, mit denen wir uns als Medizinstudenten nicht gerne befassten, weil sie zu viele Erscheinungsformen hat. Die Patienten klagen über Herzversagen, Leberzirrhose, Diabetes, Nebennierenschwäche, Arthritis oder ein allgemeines Krankheitsgefühl. Zudem gibt es viele andere Krankheiten mit ähnlichen Symptomen. Wir hatten den Eindruck, dass alles an der Hämochromatose komplex und vage ist. Da sie derart viele Symptome hervorrufen kann, tauchte sie fast immer auf einer Liste möglicher Diagnosen auf. Solche Krankheiten wecken in jungen Ärzten

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