Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Wissen über das individuelle Genom. Das sind zwei verschiedene Themen. Ich befürworte den wissenschaftlichen Forschritt, mache mir aber große Sorgen über die unerwünschten Nebenwirkungen individueller Gentests. Wir verstehen weniger, als wir glauben. Um zu verstehen, warum es gefährlich sein kann, mehr über Ihre persönlichen Risiken zu erfahren, müssen Sie eine Vorstellung davon haben, was die Medizin mit diesen Informationen anfängt.
Mehr Tests, mehr Behandlungen
Eine Diagnose, die darauf schließen lässt, dass Ihr Risiko für bestimmte Krankheiten hoch ist, hat erste Folgen. Sie bewirkt, dass alle (Sie, Ihre Familie, Ihre Ärzte und vielleicht sogar Ihre Versicherung) sich Sorgen darüber machen, was demnächst auf Sie zukommt. Diese Angst führt meist zu weiteren Untersuchungen, die häufig weitere absehbare »Krankheiten« ausfindig machen, begleitet von einigen Überraschungsfunden. Die Folge sind weitere Maßnahmen: auf jeden Fall Medikamente, vielleicht auch eine Operation.
Eine Frau mit dem Brustkrebsgen beginnt möglicherweise früher als üblich mit der Mammografie (zum Beispiel mit fünfunddreißig statt mit fünfzig Jahren) und wird häufiger geröntgt. Frühere und häufigere Mammografien können nicht nur zu Überdiagnosen führen, sondern setzen Frauen, die ohnehin eine Veranlagung für Brustkrebs haben, einer höheren Strahlenbelastung aus. Ein Mann mit dem Prostatakrebsgen beginnt vielleicht früher mit PSA-Tests (zum Beispiel mit vierzig statt mit fünfzig Jahren) und lässt sich öfter testen. Da die genetische Information in beiden Fällen auf ein hohes Risiko hinweist, werden die Ärzte weniger zurückhaltend sein, was Biopsien anbelangt. Und wie Sie inzwischen wissen, führen diese häufigeren Untersuchungen unweigerlich zu mehr Diagnosen, mehr Überdiagnosen und mehr Behandlungen wegen Brust- oder Prostatakrebs. Und wenn auf einem Schichtbild Körperteile zu sehen sind, die gar nicht untersucht werden sollen (was bei CT-Scans) vorkommt, sind unerwartete Befunde möglich, die ebenfalls weitere Behandlungen nach sich ziehen.
Allein die Feststellung, dass Ihr Risiko erhöht ist, kann Maßnahmen auslösen, die vor Krankheit schützen sollen. Eine Frau, die erfährt, dass ihr Brustkrebsrisiko erhöht ist, nimmt vielleicht Tamoxifen, um das Risiko zu senken, oder sie lässt sich sogar vorbeugend die Brüste entfernen. Ein Mann, dem der Arzt mitteilt, sein Prostatakrebsrisiko sei erhöht, nimmt möglicherweise Finasterid oder lässt sich vorsichtshalber die Prostata entfernen. Das Hauptproblem beim Gentest ist die Ungewissheit; denn niemand weiß, wer erkrankt und was man jetzt dagegen tun sollte. Ein großer Teil dieser Ungewissheit wird uns immer begleiten, einerlei, wie gut wir die Humanbiologie verstehen.
Genetik ist nicht Schicksal
Die in den Genen enthaltenen Informationen werden oft als Bauplan des Körpers bezeichnet, obwohl einige Wissenschaftler der Meinung sind, ein Rezept, das jedes Mal ein wenig anders ausfällt, sei die bessere Analogie. Es gibt ein Gen, das die Augenfarbe bestimmt, ein Gen, das die Insulinproduktion steuert, und ein Gen, das Sie in die Lage versetzt, die Zunge einzurollen (oder auch nicht). Und Sie haben ungefähr 25 000 weitere Gene. Gene sind aus nur vier Bausteinen zusammengesetzt, deren Namen mit den Buchstaben A, C, G und T abgekürzt werden. Der Code entsteht durch die Kombination dieser Bausteine. Ein durchschnittliches Gen hat 3000 Bausteine (die Bandbreite reicht von 252 bis 2,4 Millionen). Die große Mehrzahl – über 99 Prozent – dieser genetischen Informationen ist bei allen Menschen identisch. Das ergibt Sinn, weil wir alle sehr viel gemeinsam haben: zwei Augen, ein Herz mit vier Kammern, den aufrechten Gang und so weiter. Aber auch die wenigen genetischen Informationen, die sich von Mensch zu Mensch unterscheiden, sind wichtig; denn sie tragen sehr dazu bei, dass jeder Mensch ein Individuum ist.
Im einfachsten Fall würden die Gene alles bestimmen, sämtliche individuellen Merkmale eines Menschen. Aber genetische Vielfalt ist nicht alles. Selbst eineiige Zwillinge, die genau die gleiche DNS (den gleichen Genotyp) haben, sind nicht exakt gleich. Umwelteinflüsse, vor allem in jungen Jahren, spielen ebenfalls eine Rolle. Faktoren wie Ernährung, Toxine und Strahlung beeinflussen die individuellen Merkmale schon vor der Geburt, ebenso körperliche und intellektuelle Aktivitäten in der Kindheit. In der Wissenschaft besteht weitgehend
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