Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
den Wunsch, die komplexe innere Medizin zu meiden und sich auf Kardiologie oder Chirurgie zu spezialisieren, wo die Probleme unkomplizierter sind.
Aber wenigstens die Behandlung ist ziemlich unkompliziert. Wenn man das Eisen im Körper loswerden will, muss man dem Patienten nur Blut entnehmen. Ja, es stimmt: Die Standardtherapie bei Hämochromatose war und ist der Aderlass, eine Methode, die in der Medizin eine düstere Vergangenheit hat. Mehr als tausend Jahre lang entnahmen Ärzte ihren Patienten erhebliche Mengen Blut in der Annahme, dadurch verschiedene Krankheiten zu kurieren. In Wirklichkeit schadet ein Blutverlust fast allen Kranken, 10 außer sie leiden an Hämochromatose. Der Grund dafür, dass ein Aderlass bei Hämochromatose hilft, ist einfach: Rote Blutkörperchen enthalten eine Menge Eisen. Wenn man sie mit einem therapeutischen Aderlass entfernt, ist der Körper gezwungen, neue Blutkörperchen zu bilden. Dafür braucht er Eisen, das er aus seinem Vorrat holt. Dadurch sinkt der Eisengehalt des Körpers. 11 Deshalb gibt es kaum Streit darüber, wie man Hämochromatose behandelt, wohl aber darüber, wie man sie diagnostiziert.
Hämochromatose wurde in den dreißiger Jahren als Erbkrankheit erkannt, etwa sechzig Jahre, bevor der Gendefekt identifiziert wurde. 12 Es gibt sogar mehrere Genmutationen, die Hämochromatose verursachen können; aber die häufigste, C282Y genannt, wurde 1996 entdeckt. Sie ist recht interessant, denn es handelt sich um einen Defekt in einem Gen, das die Bildung eines Proteins veranlasst, das seinerseits die Eisenspeicherung reguliert. Da die Hämochromatose eine autosomal-rezessive Krankheit ist, müssen Sie den Gendefekt von beiden Elternteilen erben, um zu erkranken – wie bei der Mukoviszidose. Das geschädigte und das normale Gen unterscheiden sich nur in einem einzigen von fast zehntausend Bausteinen – dort, wo ein G sein sollte, befindet sich ein A. Man nimmt an, dass dieser Defekt auf eine zufällige Mutation bei einem einzigen Wikinger in Nordwesteuropa vor etwa zweitausend Jahren zurückzuführen ist. Sie beeinträchtigt die Fortpflanzungsfähigkeit nicht und hat vielleicht sogar den Vorteil, dass sie Eisenmangel verhindert, vor allem bei menstruierenden Frauen. Dies könnte der Grund dafür sein, dass die Mutation sich über viele Generationen hinweg behaupten konnte.
Gentests für Hämochromatose haben das Leben vieler Ärzte zweifellos komplizierter gemacht. Jetzt müssen wir überlegen, wann wir einen Patienten testen lassen sollen, wie Abbildung 9.2 zeigt. Sollen wir den Test vornehmen, sobald der Genotyp feststellbar ist, also schon vor Ihrer Geburt oder gar kurz nach Ihrer Zeugung? Oder sollen wir nur dann testen, wenn eine biochemische Abweichung, nämlich eine übermäßige Eisenspeicherung vorliegt (der symptomlose Phänotyp) oder erst später, wenn Symptome der Krankheit auftreten (Herzversagen, Leberzirrhose, Diabetes, Nebennierenschwäche, Arthritis oder ein allgemeines Krankheitsgefühl)?
Die Tatsache, dass es drei mögliche Testverfahren gibt, hat unter den Medizinern einige Debatten darüber ausgelöst, welche Methode die beste ist. Meist wird die Diagnose bei einem Patienten gestellt, der müde ist, sich krank fühlt und Gelenkschmerzen hat und dessen Eisenspeicher sich als zu hoch herausstellen. Manche Ärzte treten für eine frühere Diagnose ein; sie wollen auch nach dem symptomlosen Phänotyp mit übermäßiger Eisenspeicherung suchen. Ein einfacher Bluttest kann die Proteine bestimmen, die Eisen resorbieren oder speichern. Andere Ärzte befürworten einen Gentest; sie wollen Menschen routinemäßig auf C282Y und andere genetische Varianten testen. Die Entscheidung ist immerhin so folgenreich, dass die amerikanische Preventive Services Task Force sich zu einer Empfehlung entschloss. In ihrer systematischen Analyse der medizinischen Literatur weist sie darauf hin, dass das Gen C282Y im Gegensatz zur Mukoviszidose nicht vollständig penetrant ist. Sie erkennt sogar an, dass das Konzept der Penetranz viel komplizierter ist. Es war nicht klar, ob mit Penetranz die Wahrscheinlichkeit gemeint ist, mit der das Gen zum symptomatischen Phänotyp (zur Krankheit) führt, oder die Wahrscheinlichkeit, mit der es zum symptomlosen Phänotyp mit übermäßiger Eisenspeicherung führt.
Abbildung 9.2 Drei Punkte, an denen Hämochromatose diagnostiziert werden kann
Die PSTF prüfte beide Wahrscheinlichkeiten und kam zu dem Schluss, dass die Penetranz vom
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