Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Genotyp zum symptomlosen Phänotyp und erst recht vom Genotyp zum symptomatischen Phänotyp unvollständig ist. Weniger als die Hälfte der Menschen, die C282Y von beiden Elternteilen geerbt haben, leiden unter der biochemischen Anomalie einer übermäßigen Eisenspeicherung, und weniger als die Hälfte derer, bei denen eine übermäßige Eisenspeicherung vorliegt, bekommen den klinischen Befund. 13 Abbildung 9.3 zeichnet ein genaueres Bild der Abweichung.
Abbildung 9.3 Penetranz der Hämochromatose
Kurz gesagt: Von vier Menschen, die von beiden Elternteilen C282Y geerbt haben, erkranken etwa drei nicht an Hämochromatose. Wenn wir Menschen auf diesen Genotyp testen, sind also 75 Prozent derjenigen, bei denen die genetische Anomalie vorliegt, Opfer einer Überdiagnose.
Nun könnte man durchaus die Meinung vertreten, dass wir diese drei Opfer akzeptieren können, wenn klar ist, dass der Eine, bei dem sich die Krankheit entwickelt, von der frühen Diagnose profitiert. Andererseits wäre es ebenso vernünftig zu fordern, dass Patienten die Möglichkeit haben sollten, selbst zu entscheiden, ob sie getestet werden oder nicht. Sie müssten dann den potenziellen Nutzen einer frühen Diagnose der Krankheit abwägen gegen den potenziellen Schaden einer Überdiagnose, zum Beispiel Verlust der Versicherung (in den USA) oder unnötige Aderlässe. Damit jedoch ein Patient, der eines Tages an Hämochromatose erkranken wird, von einem Gentest profitiert, muss eine frühe Behandlung eindeutig besser sein als eine Behandlung aufgrund einer Diagnose, die sich auf Symptome stützt. Die PSTF fand keinerlei Beweise dafür, dass ein früherer Behandlungsbeginn den wenigen Patienten nützen würde, bei denen sich die Krankheit entwickeln wird. Und da die Krankheit relativ selten ist, müssten wir ungefähr tausend Menschen genetisch testen, um eine kranke Person zu finden. Dann läge bei drei Menschen eine Überdiagnose vor, und andere müssten einen falschen Alarm ertragen, weil das defekte Gen bei ihnen irrtümlicherweise diagnostiziert würde. Die PSTF riet daher dingend vom Gentest ab und kam zu dem Schluss, dass die möglichen Nachteile die möglichen Vorteile überwiegen. Bis auf Weiteres wird der Aderlass also keine Auferstehung als gängige Therapie erleben.
Gentests für häufige Krebsarten
Hämochromatose ist eine ziemlich seltene Krankheit. Sie ist nicht der Grund dafür, dass so viele Leute sich von Gentests begeistern lassen. Was sie wirklich interessiert, ist die Bestimmung des Risikos für häufige chronische Krankheiten wie Diabetes, Herzkrankheiten und Krebs. Das Interesse am Krebs scheint bei Weitem am größten zu sein. Wir haben bereits eine recht gute Vorstellung davon, bei wem das Risiko für Diabetes und Herzkrankheiten hoch ist. Es besteht kein Bedarf an einem Gentest, der die gängigen und wichtigen Risikofaktoren für Diabetes ermittelt: Fettleibigkeit, eine sitzende Lebensweise sowie die familiäre Belastung. Wir brauchen auch keinen Gentest für Herzkrankheiten und ihre wichtigen Risikofaktoren: hoher Cholesterinspiegel, Bluthochdruck, Diabetes und familiäre Belastung. Aber Krebs ist etwas anderes. Rauchen ist der einzige häufige und wichtige Risikofaktor, aber nur für einige Krebsarten. Und auch Nichtraucher erkranken oft an Krebs.
Die meisten Karzinome treten offenbar sporadisch auf, fast zufällig. Es gibt zwar einzelne Gene, die Krebs verursachen, zum Beispiel das BRCA1- und das BRCA2-Gen beim Eierstockkrebs und beim Brustkrebs sowie das Gen für familiäre adenomatöse Polypose, die zu Dickdarmkrebs führt, aber diese Gene sind insgesamt nur für relativ wenige Karzinome verantwortlich. Die meisten Brust-, Eierstock- und Darmkarzinome haben keine leicht identifizierbare genetische Grundlage. Das Gleiche gilt auch für andere Krebsarten. Trotzdem wird mit viel Begeisterung (und Geld) versucht, die mögliche genetische Mitursache häufiger Krebsarten zu finden. Warum auch nicht? Diese Forschung ist ja vielversprechend. Wenn wir bestimmen können, wer wahrscheinlich Krebs bekommt, können wir die Betroffenen anders behandeln und möglicherweise mehr Leben retten.
Aber es gibt zwei Probleme bei dieser Herangehensweise. Erstens ist nicht klar, inwiefern wir diese Patienten anders behandeln sollen. Suchen wir nur intensiver nach Krebs, trotz aller Probleme, die damit verbunden sind? Oder tun wir wirklich etwas – verabreichen wir ein Medikament, oder operieren wir? Die Wahrheit lautet: Das ist sehr
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