Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
schwer zu sagen. Und wenn wir mithilfe einer Studie herausfinden wollen, welcher Ansatz der beste ist, müssen wir Tausende von Patienten jahrzehntelang beobachten.
Das zweite Problem sind natürlich Überdiagnosen. Wir sagen möglicherweise zu vielen Menschen, dass ihr Krebsrisiko hoch sei. Dann machen sie sich nicht nur unnötige Sorgen, sondern sie werden obendrein untersucht und behandelt. Das kann ihnen nur schaden.
Die intensive Suche nach Krebsrisiken
Die Forscher haben auf ihrer Suche nach den genetischen Mitursachen häufiger Krebsarten einen neuen Kurs eingeschlagen. Sie wissen, dass meist kein einzelnes Gen für einen Krebs verantwortlich ist (solche Gene wären im Stammbaum leicht erkennbar). Darum studieren sie die Rolle mehrerer Gene bei der Krebsentstehung. Oft wissen sie nicht genau, welche Gene das sind, wo sie sich befinden oder ob sie überhaupt existieren. Trotz dieser Ungewissheit wenden sie eine ziemlich schlaue Methode an. Sie suchen nach Snips. Snips ist die phonetische Aussprache der Abkürzung SNPs, die für single nucleotide polymorphisms (einzelne Nukleotidpolymorphismen) steht. Ein Snip ist eine Genvariante in einem einzigen Baustein der gesamten DNS. Wenn die meisten Menschen einen bestimmten DNS-Abschnitt haben, der AAT G GGC lautet, während bei Ihnen die Reihenfolge AAT T GGC vorliegt, haben Sie einen Snip.
Jedes Genom enthält zahlreiche Snips. Einige kommen in der Mitte eines Gens vor und beeinflussen seine Funktion (zum Beispiel C282Y bei Hämochromatose). Die meisten Snips befinden sich jedoch in der »Junk-DNS«, die keine bekannte Funktion hat. Ein Teil dieses »Erbgutmülls« besteht vielleicht aus evolutionären Artefakten, die früher einmal einen Zweck erfüllten, heute aber nicht mehr. Ein anderer Teil dient möglicherweise als Ablage für Genvarianten, die in Zukunft nützlich sein können, oder er hat eine Funktion, die wir noch nicht kennen. Es hat sich herausgestellt, dass die DNS zum größten Teil aus Müll besteht. Obwohl wir also eine Menge Snips im Genotyp haben, spielt das kaum eine Rolle, weil die meisten Snips den Genotyp nicht beeinflussen. 14
Snips sind ziemlich leicht zu finden. Wissenschaftler können individuelle Genome rasch miteinander vergleichen und die Snips aufspüren. Snips kann man sich als einzelne Schilder auf dem Genom vorstellen, als Wegweiser, die möglicherweise mit der benachbarten funktionellen DNS (dem DNS-Teil mit den Genen) in Verbindung stehen. Insofern gleichen Snipmuster den Strichcodes. Obwohl die meisten Snips untätig bleiben (nicht kodieren), könnten ihre Muster etwas über die funktionelle DNA verraten, also auch über Krankheitsrisiken. Um herauszufinden, ob Snipmuster Krebs vorhersagen, vergleichen Wissenschaftler die Snipmuster Hunderter von Krebspatienten mit den Snipmustern Hunderter gesunder Menschen. Dann versuchen sie mit Großcomputern eine Formel zu finden, die für eine Snipkombination steht, mit der man am besten zwischen Krebskranken und Gesunden unterscheiden kann. Mit anderen Worten: Sie sammeln in einer großen Bevölkerungsgruppe genetische Strichcodes und suchen nach einer Strichcode-Formel, die zwischen Krebskranken und Gesunden unterscheiden kann. Das ist seriöse statistische Arbeit, die ohne moderne Computer unmöglich wäre.
Fallstudie: Snips und Prostatakrebs
Die prototypische Studie zu diesem Thema erschien im Februar 2008 im New England Journal of Medicine . 15 Sie kam zu dem Ergebnis, dass eine Kombination von fünf Snips helfen kann, das Prostatakrebsrisiko einzuschätzen. Die Forscher suchten bei Männern mit und ohne Prostatakrebs nach insgesamt sechzehn Snips. Andere Wissenschaftler hatten behauptet, alle sechzehn stünden mit Prostatakrebs in Verbindung; aber diese Studie belegt, dass drei dieser Snips nichts mit der Krankheit zu tun haben. Die Studie sollte uns eine Lehre sein: Wir können heutzutage so viele Snips lesen, dass einige von ihnen scheinbar mit Krankheiten zusammenhängen, obwohl es sich nur um eine zufällige Korrelation handelt. Denken Sie daran, dass die meisten Snips nichts kodieren und selbst keinen Krebs verursachen. Zwischen ihnen und dem Krebs besteht nur ein statistischer Zusammenhang, und das kann reiner Zufall sein. Bevor wir also an eine ursächliche Verbindung zwischen Snips und einer Krankheit glauben, sollte diese von mehreren Studien bestätigt worden sein.
Die Wissenschaftler suchten dann die fünf Snips heraus, die am stärksten mit Prostatakrebs korrelierten.
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