Die Dichterin von Aquitanien
darf er sich an unsere Seite setzen.«
Der junge Ritter nahm am Tisch auf der Tribüne zwischen Richard und Raoul de Faye Platz, wodurch er zum Mitglied des engsten Kreises um die Königin wurde. Danach erschienen die üblichen Sänger und Gaukler. Marie erfreute sich an der Darbietung Bernard de Ventadorns, doch trat er diesmal ohne seine musikalische Begleitung auf, sondern spielte selbst auf der Harfe. Verwirrt sah sie sich im Saal um. Diesmal waren sehr viele Menschen versammelt, und sie konnte Jean unter all den unbekannten Gestalten nicht entdecken. War er bereits abgereist? Sie schalt sich innerlich für das Gefühl von Enttäuschung, das sie erneut niederdrückte. Dann bemerkte sie das sommersprossige Gesicht eines rothaarigen Jungen, und Erinnerungen stiegen in ihr hoch.
»Hoheit«, wandte sie sich an die Königin. »Dieser Knappe, der über die Mauer kletterte, um Verstärkung zu holen, hätte er nicht auch eine Belohnung verdient? Er setzte dadurch sein Leben aufs Spiel, und ohne ihn wären wir verloren gewesen.«
Aliénor, die sich gerade mit Richard unterhalten hatte, warf Marie zunächst einen finsteren Blick zu, denn sie schätzte es nicht, unterbrochen zu werden. Dann schien sie die Bedeutung der Worte zu erfassen, denn ihre Augen richteten sich kurz auf die Versammelten.
»Ich weiß nicht einmal, wie dieser Junge hieß«, meinte sie nur.
»Aber er sitzt hier an Eurer Tafel. Ich habe ihn gesehen«, beharrte Marie. Emma stieß einen Seufzer aus und flüsterte Isabelle etwas ins Ohr. Vermutlich konnte sie nicht begreifen, warum Marie wegen eines Knappen bereit war, den Ärger der Königin auf sich zu ziehen.
»Nun, dann zeig ihn mir«, meinte Aliénor ungeduldig. Marie wies mit der Hand in die Richtung des sommersprossigen Jungen. Sie hatte keine Zweifel mehr, er war es. Sein Gesicht begann bereits rot anzulaufen, da er den Blick der Königin auf sich ruhen sah.
»Steh auf und komm zu uns«, rief Marie so freundlich wie möglich. Der Junge gehorchte, auch wenn er dabei aussah, als quälten ihn Zahnschmerzen. Bald schon kniete er vor der Königin, die rasch einen goldenen Ring von ihrem Finger zog und ihn dem Knappen hinhielt.
»Nimm dies als Dank für deinen Mut. Wie ist dein Name?«
Die Stimme des Knappen war so leise, dass Marie sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen.
»Robert de Veizis.«
Maries Herzschlag beschleunigte sich, aber sie sagte sich, dass es sicher nur ein Zufall war. Hier im Süden mochten viele Ritter de Veizis heißen. Dann sah sie die blauen Augen. Am unteren Ende der Tafel, wo der Knappe gesessen hatte, tauchte endlich Jeans Gesicht auf. Er war nicht abgereist, sondern schenkte ihr sein offenes, strahlendes Lächeln. Schnell senkte sie den Blick, um ihre Unruhe zu verbergen. Ihre Finger verknoteten sich nervös unter dem Tisch. Sie hatte geglaubt, in der Zeit an Aliénors Seite beherrschtes, sicheres Auftreten gelernt zu haben. Warum verhielt sie sich dann wie ein unreifes Mädchen, sobald sie Jean erblickte? Unzufrieden über ihr dümmliches Betragen zwang sie sich, wieder aufzublicken und gelassen die Anwesenden zu betrachten. Während Gaukler herumsprangen, waren angeregte
Gespräche im Gange. Nur Richard sparte mit Worten. Ebenso wie Marie war er damit beschäftigt, die Gäste der Tafel zu betrachten. Sein Blick blieb an einem Jungen hängen, der etwas weiter unten zwischen zwei Rittern saß und verunsichert wirkte. Marie betrachtete ein schmales, aber markantes Gesicht, das dunkle Locken umrahmten. Sie erkannte Meir ben David, den Sohn des Arztes aus Salerno. Richards Widerwillen, sich mit einem Juden zu treffen, war schnell verflogen. Die beiden verbrachten viel Zeit miteinander, spielten Schach oder übten sich im Umgang mit Waffen. Nun trafen sich ihre Blicke. Die Andeutung eines Lächelns erschien auf Meirs Lippen. Richard hob unauffällig seinen Weinkrug. Sie wirkten wie heimliche Verbündete, die vor all diesen Menschen ein Geheimnis verbargen. Ähnlich hatten sich Guy de Osteilli und Owein manchmal angesehen, fiel Marie ein. Aber sie verscheuchte diesen Gedanken, weil er ihr unsinnig schien.
Der nächste Tag war sommerlich warm. Marie verzehrte in ihrem Gemach ein Morgenmahl, dann setzte sie sich an ihren Tisch, um die nächste Geschichte zu vollenden, doch es wollte ihr einfach nicht gelingen, wieder in der Welt ihrer Träume zu versinken. Unruhig trat sie ans Fenster. Draußen lockte der Duft einer lebendigen Stadt im Sonnenlicht, die von Flüssen,
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