Die Dichterin von Aquitanien
Weinbergen und Wäldern umgeben war. Marie schmeckte Freiheit auf ihrer Zunge. Sie erinnerte sich an die Zeit, da sie nichts anderes hatte tun können, als durch eine Fensteröffnung in die Welt hinauszublicken, und wollte sich plötzlich wieder vergewissern, dass nun alles anders war. Sie legte den Schleier über ihr Haar und setzte einen schlichten Reif aus Bronze auf. Sie wollte hinausgehen. Hawisa nutzte immer wieder Gelegenheiten, sich zu entfernen, und es widerstrebte Marie, ihre Zofe darin einzuschränken.
Emma schlief vermutlich noch. Aliénor wollte mit Richard nach Limoges reisen und würde die Gegenwart ihrer Damen erst nach ihrer Rückkehr fordern. Marie war erleichtert. So konnte sie eine Weile allein mit ihren Gedanken sein, ohne gefällig plaudern oder ein Lai vortragen zu müssen. Sie steckte ein Messer in den Gürtel ihres Bliauts, denn Aliénor hatte ihr gezeigt, wie hilfreich eine Waffe sein konnte. Dann streifte sie Hawisas hölzerne Trippen über, die feines Schuhwerk vor dem Schlamm der Straßen schützten. Ihre schlichte Aufmachung wäre von Vorteil, würde nur eine überschaubare Menge von Bettlern und Taschendieben herbeilocken. Aufgeregt betrat Marie die Brücke, die über den Graben um den Palast führte.
Die Stadt war bereits voller Leben. Karren zogen ächzend durch die Straßen. Fasziniert betrachtete Marie die bunten Figuren an der Fassade der neu erbauten Kirche Notre Dame la Grande, erwog kurz hineinzugehen, doch wollte sie den Sonnenschein nicht missen. Weiter ging es über den Marktplatz, wo bereits einige Händler im Begriff waren, sich durch das Anpreisen ihrer Waren heiser zu brüllen. Ein abgemagerter, dreibeiniger Hund schnüffelte am Saum von Maries Bliaut, und sie gab ihm ein paar Krumen von dem mit Speck überbackenem Brot, das sie am Stand eines Bäckers erworben hatte. Anschließend umrundete sie die Kirche der heiligen Radegund, zu deren Grabmal bereits etliche Pilger strömten. Wie von selbst bewegten sich ihre Füße zur Stadtmauer. Das Tor war offen. Draußen lockten die Weite der Landschaft, und am Himmel strahlte Sonne.
Marie streifte die Trippen ab und steckte sie in einen Beutel, der an ihrem Gürtel hing. Auf freiem Gelände lag weniger Schmutz und zudem konnte sie in ihren Schuhen besser laufen. Sie überquerte den Pont Joubert und stieg einen
steilen Hang voller Weinreben hoch. Bienen summten, und kein anderer Laut störte die friedliche Idylle. Ein Pfad lockte Marie weiter. Eine Weile noch, dann würde sie umkehren. Im Gras leuchteten Frühlingsblumen wie bunte Sterne und dufteten reizvoller als jedes Parfüm der Höflinge in Poitiers. Marie dachte an ihre Kindheit, an ein Leben ohne Mauern.
Das Geräusch von Schritten riss sie aus ihren Träumen. Drei zerlumpte Gestalten versperrten ihr plötzlich den Weg.
»So ganz allein unterwegs, Mädchen. Fühlst du dich nicht einsam?«
Marie blickte in ausgezehrte männliche Gesichter. Sie griff nach ihrem Beutel, in dem noch ein paar Münzen waren. Kurz strich sie auch über den Griff des Messers und zog daraus ein Gefühl der Beruhigung.
»Ich habe nur einen Spaziergang machen wollen. Jetzt gehe ich nach Poitiers zurück«, erklärte sie energisch. Dann warf sie einem der Männer ihren Beutel mit den Münzen zu. »Hier, nehmt das. Ihr könnt Euch in der Stadt etwas zu essen kaufen.«
Schnell wandte sie sich um. Ein Schritt. Noch ein weiterer, doch da wurde sie gepackt und zurückgerissen.
»Nicht so hastig, Mädchen. Du kannst uns noch etwas Gesellschaft leisten.«
Die Gesichter waren nun sehr nahe. Der Gestank verfaulter Zähne streifte Maries Nase. Nach all der Zeit unter geschminkten, parfümierten Höflingen hatte sie ganz vergessen, wie die meisten Menschen dieser Welt aussahen.
»Lasst mich los«, beharrte Marie so ruhig wie möglich. »Ich muss in die Stadt zurück. Dort erwartet mich die Königin.«
Schallendes Gelächter erhob sich. Spucke benetzte Maries Wangen.
»Die Königin wartet auf dich, sieh an? Was bist du? Ihre
Zofe? Du siehst mehr wie eine entlaufene Nonne aus. Wir wollen dir einen Gefallen tun, du sollst erleben, was du lang vermisst hast.«
Nun zwängten Hände sie nieder. Marie bohrte die Klinge des Messers in einen Arm und hörte, wie ihr Angreifer brüllte. Sie riss sich los, sprang auf und rannte davon. Fast schon hatte sie den Abstieg zur rettenden Stadtmauer begonnen, da zerrte jemand an ihrem Bliaut. Marie tat entschlossen einen Schritt nach vorn, doch wurde sie erneut
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