Die Dichterin von Aquitanien
allein, dann erschien plötzlich schon Jeans Gesicht, doch als sie die Hand nach ihm ausstrecken wollte, drangen plötzlich die Umrisse eines Gemachs in ihr Bewusstsein. Steinwände, ein Tisch und eine Bank zeichneten sich als verschiedene Schattierungen von Schwarz oder Grau in der nächtlichen Finsternis ab. Sobald ihr klar wurde, dass sie nur geträumt hatte und weiterhin in Chinon war, schloss sie ihre Lider wieder. Sie staunte über die ruhigen Atemzüge der Königin an ihrer Seite. Marie Mut und Trost zu schenken hatte Aliénor offenbar genügend angestrengt, um sie endlich fest schlafen zu lassen.
Nach weiteren Träumen über eine geglückte Flucht, auf die stets nüchternes Erwachen folgte, drang endlich Sonnenschein durch die Ritzen des Pergaments an der Fensteröffnung. Es war bereits Frühling, deshalb wollte Henri vermutlich nach Barfleur aufbrechen.
Amaria brachte Brot, Käse und Milch herein. In eine Decke gewickelt setzte Aliénor sich sogleich an den Tisch. Marie folgte ihrem Beispiel und aß eine Scheibe Brot, auch
wenn die Aufregung jedes Hungergefühl betäubte. Die Milch schmeckte ihr und hinterließ einen weißen Bart auf ihrer Oberlippe, wie die Königin lächelnd anmerkte.
»Er steht dir. Mit deinen klugen Augen lässt er dich wie einen alten Philosophen aussehen«, sagte sie, doch Marie war nicht zum Scherzen zumute. Ungeduldig harrte sie auf das Klopfen an der Tür. Guy hatte versprochen, sie noch vor der hora tertia zu Jean zu führen. Sie beobachtete Aliénor, die nach dem Essen ruhig Fäden durch ihre Stickerei zu ziehen begann, und versuchte etwas von der Ruhe, die ihre Königin plötzlich ausstrahlte, in sich aufzusaugen. Es gelang ihr nicht. Ihre eigenen Hände vermochten nicht am Federkiel zu bleiben, sondern griffen ziellos nach Pergament, Tintenfass und Wasserbecher, schoben die Gegenstände herum, als könne ein anderes Arrangement ihre ganze Lage vorteilhaft verändern. Wie lange mochte es noch dauern?
Als das ersehnte Geräusch endlich ertönte, warf sie vor Aufregung das Tintenfass um. Schwarze Flüssigkeit ergoss sich über den Tisch, und Marie war froh, keine einzige Zeile auf das Pergament geschrieben zu haben, denn nun war es verdorben. Ratlos sah sie sich nach einem Tuch um.
»Geh schon! Amaria soll das aufwischen, wenn sie uns wieder mit ihrer Gegenwart beehrt«, meinte Aliénor gleichmütig, und Marie gehorchte.
Ihr schien, dass Guy blass aussah, aber sie verdrängte diesen Eindruck sogleich. Atemlos vor Aufregung huschte sie nach unten, durchquerte den Innenhof und eilte hinauf ins Turmzimmer. Auf einmal schnürte eine unbestimmte Angst ihre Kehle zusammen. Sie musste Jean sehen, damit die Welt wieder in Ordnung kam.
Guy öffnete die Tür. Ein gleißender Sonnenstrahl zeichnete eine helle Linie auf den Steinboden. Der Rest des Raums war dämmerig. Und vollkommen leer.
Hinter ihr fiel die Tür zu. Marie fuhr herum. »Wo ist Jean?«, schrie sie. Guy verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wir müssen reden«, sagte er nur.
»Ich will nicht reden! Ich will Jean sehen!«
Sie wünschte sich ein Möbelstück in diesem Raum, nach dem sie hätte treten können.
»Marie«, begann Guy mit sichtlicher Mühe. »Jean ist nicht mehr in Chinon. Er ist noch gestern nach Paris aufgebrochen, um sich wieder Richard anzuschließen.«
Sie zuckte zusammen, als hätte der Ritter ihr einen Hieb versetzt.
»Ich muss ihm folgen«, rief sie aufgeregt. »Er wartet auf mich. Bevor der König mich nach Barfleur bringt, muss ich …«
Guy kam auf sie zu und legte seine Hände auf ihre Schultern. Sie wurde geschüttelt wie eine verstaubte Decke.
»Wach auf! Erinnere dich an deinen ersten Fluchtversuch! Diesmal ist es noch aussichtsloser. Du wirst der Bewachung ebenso wenig entkommen wie die Königin. Jean hatte Verstand genug, dies zu wissen.«
Marie trat gegen seine Beine und kratzte am Leinenstoff seines Surcots.
»Lass mich los! Ich muss fort! Ich muss zu Jean!«
Guy drückte sie gegen die Wand.
»Er will nicht, dass du ihm folgst. Er will für Richard kämpfen, um Land zu bekommen. Dann kann er dich vielleicht holen. Du sollst warten, Marie. In Edwardstowe.«
Noch nie zuvor hatte Marie den Klang seiner Stimme derart gehasst. Sie schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Der stechende Schmerz tat wohl, denn er lenkte sie kurz von einem anderen, weitaus quälenderen ab, der sich wie ein Wundbrand in ihrem Körper ausbreitete.
»Ich bin es leid, Versprechungen zu hören! Ich werde ihm
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