Die Dichterin von Aquitanien
den Reichtum ihres Klosters deutlich machen wollte.
»Du wirst deine eigene Zelle bekommen«, sprach die Äbtissin weiter. »Zunächst kannst du dich ein wenig ausruhen, dann wirst du herumgeführt. Aber als Allererstes will ich dir unsere Bibliothek zeigen.«
Marie sah die grauen Augen stolz funkeln.
»Wir haben eine Sammlung vieler alter Schriften. Die meisten von ihnen sind auf Englisch geschrieben.«
Mit einer sanften, aber bestimmten Berührung wurde Marie in Richtung des Eingangstors geschoben.
»Ich verstehe die englische Sprache einigermaßen, aber es fällt mir leider schwer, sie zu lesen. Die Schwestern hier stammen alle aus normannischen Familien. Mein Bruder schrieb mir, dass du die englische Sprache beherrschst.«
Marie nickte und staunte gleichzeitig, wie viel Henri über sie herausgefunden hatte. Völlig gleichgültig konnte sie ihrem Onkel nicht sein. Die Äbtissin lächelte zufrieden.
»Ich habe mir schon lange gewünscht, dass jemand diese alten Schriften übersetzt, damit sie für meine Mädchen verständlich werden. In einem Kloster ist es Frauen möglich, ihren Verstand zu nutzen. Begabungen zu fördern, halte ich für wichtig. Jede der Schwestern soll ihren Beitrag zum Ruhm des Klosters leisten können.«
Die aufrechte Haltung der Äbtissin erinnerte Marie an
Aliénor. Mit stolzen Schritten durchquerte ihre Tante einen verwinkelten, mit Fackeln erleuchteten Korridor, zog Marie durch einen großen Speisesaal hin zu einer Treppe.
»Die Kirche zeige ich dir später. Du solltest natürlich einen Blick auf das Grab des heiligen Edward werfen. Aber vielleicht willst du zunächst die Bibliothek sehen.«
Es schien mehr eine Aufforderung denn eine Frage, und tief in Marie begann eine Flamme zu flackern. Plötzlich bot das Leben ihr wieder reizvolle Versprechungen. Eine Tür wurde geöffnet. Wimpel hoben sich und Gesichter starrten sie neugierig an. Vier Nonnen saßen an Tischen und waren mit Federkielen bewaffnet über ihre Pergamentblätter gebeugt.
Sie fühlte sich plötzlich nicht mehr fremd an diesem Ort.
»Sieh dich um, Marie. Wenn du Fragen hast, dann wende dich an eine der Schwestern«, sagte die Äbtissin, nachdem sie Marie kurz vorgestellt hatte. »Wir sehen uns zur Vesper wieder.«
Die Äbtissin verabschiedete sich. Marie blieb stehen und musterte die mit Büchern und Schriftrollen gefüllten Regale, ließ ihren Blick über diese Unmenge an Schätzen schweifen. Das Herz hüpfte aufgeregt in ihrer Brust. Ein zerfleddertes Buch weckte ihre Aufmerksamkeit, denn es schien eines der ältesten. Sie zog es aus dem Regal und ging zu einem freien Tisch. Die missbilligenden Blicke der anderen Nonnen wurden unwichtig, als sie den Einband öffnete und harte, aber ebenmäßige Schriftzeichen sie in eine neue Welt lockten. Das Englische zu lesen, fiel ihr nicht leicht, denn bisher hatte sie diese Sprache nur gesprochen. Mühsam reihte sie einen Buchstaben an den anderen. Als sie begann, die Wörter leise vor sich hin zu murmeln, ergaben sie allmählich Sinn. Es ging um Tiere, die wie Menschen dachten und redeten.
»Weiß jemand, was für ein Buch das ist?«, störte sie die
Stille der Bibliothek und hielt ihren Fund hoch. Murren erklang, doch ein schmales, altkluges Mädchengesicht wandte sich ihr sogleich zu.
»Das sind Fabeln, die der König Alfred aus dem Lateinischen übersetzte«, kam es mit sichtlichem Stolz, die Frage beantworten zu können. »Leider haben wir seine damalige Vorlage nicht, denn das wäre leichter zu lesen.«
Marie nickte, doch hatte ihr Blick sich bereits wieder den Zeilen zugewandt. Ihr Verstand sog Wort für Wort in sich auf, jonglierte mit möglichen französischen Formulierungen, die den Inhalt passend wiedergeben könnten. Ungeduldig blickte sie sich nach Pergament und Federkiel um. Ihre Hände zitterten vor Verlangen, einen uralten Text neu gestalten zu dürfen. Marie vergaß, wo sie war und wie ihr zukünftiges Leben aussehen sollte. In diesem Moment hatte sie keinen anderen Wunsch mehr, als zu schreiben.
15. Kapitel
D ie Mädchen saßen über Schiefertafeln gebeugt, sodass Marie nur Reihen von schwarzen Nonnenschleiern sah, die sich wie Hügel vor ihr ausstreckten. Zufrieden beobachtete sie, wie junge Hände lateinische Schriftzeichen malten. Es tat wohl, diesen Frauen jenes Wissen zu vermitteln, nach dem sie sich in ihrem Alter lange gesehnt hatte.
»Nun lies vor, Annais«, wandte sie sich an eine ihrer Schülerinnen, die allzu oft auf die Tafel ihrer
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