Die Dichterin von Aquitanien
erklimmen. Ein größeres, mit Eisen beschlagenes Tor öffnete sich. Guy de Osteilli wechselte ein paar Worte mit einem Mann, dessen Körper fast gänzlich hinter einer Schutzschicht aus Kettenhemd und Beinschienen verborgen war. Auf dem Kittel, den er über dieser Panzerung trug, entdeckte Marie katzenähnliche Geschöpfe auf rotem Hintergrund.
»Das Wappen der Plantagenet. Zwei Leoparden«, erklärte Guy de Osteilli, als habe er ihre Gedanken lesen können. Dann wurde ihnen der Eintritt gewährt.
Ein von Mauern und Türmen umgebener Hof tat sich vor Maries Augen auf. Hölzerne Hütten lehnten sich ans Gemäuer, Menschen, Hunde und auch ein paar Schweine liefen vor ihnen herum. Marie fühlte sich an den Dorfplatz von Huguet erinnert, nur die Gegenwart weiterer bewaffneter Männer störte die Vertrautheit des Bildes. Guy de Osteilli schwang sich nun aus dem Sattel, und Marie tat es ihm gleich. Sogleich eilten zwei Burschen herbei, um die Pferde an sich zu nehmen. Schwermütig nahm Marie Abschied von ihrem Zelter. Der Ritter führte sie zielstrebig weiter
durch ein nächstes Tor, hinter dem sich ein weiterer Hof auftat. Hier sah es nicht mehr aus wie in einem Dorf, denn das Vieh und die Hütten fehlten. Einige Frauen in schlichter Kleidung waren über Waschtröge gebeugt, etwas bunter gewandete Männer trugen Kisten in einen der zahlreichen Bauten, die auch diesen Hof umschlossen. Wieder ragten Türme zum Himmel empor. All diese steinernen Bauwerke schienen durch hölzerne Korridore und Brücken irgendwie miteinander verbunden. Guy de Osteilli lief in das größte Gebäude. Marie meinte, von einem Ungetüm aus Stein verschluckt zu werden, als sie ihm folgte. Nur ein paar Schlitze im Gemäuer und Fackeln an den Wänden erhellten die Finsternis, während sie weitere Stufen erklomm. Zweimal traf Sonnenschein ihre Haut, da es auch in diesem Riesenbau ein paar offene Höfe gab, doch bald schon wurde er wieder von zu Rundbögen geformten Decken langer Zimmerfluchten verdrängt. Je weiter sie gelangten, desto prachtvoller wurde die Umgebung. Menschen in feiner, farbenprächtiger Kleidung bewegten sich durch die Räume. Dicke Decken lagen auf dem Boden, und farbenfrohere Exemplare hingen sogar an den Wänden. Marie staunte, als sie Gestalten von Menschen und Tieren auf ihnen entdeckte. Gerne hätte sie sich diese Bilder genauer angesehen, doch sie fürchtete, den Ritter, der mit raschen Schritten vor ihr herlief, zu verlieren, wenn sie trödelte. Schließlich stiegen sie eine steile Wendeltreppe empor und betraten einen Raum, in dem mehrere Betten und Truhen standen. Unbekannte Frauengesichter richteten sich auf Marie, und fremde Blicke musterten sie.
»Hier logieren die Damen der Königin, Demoiselle«, erklärte Guy de Osteilli mit einer leichten Verbeugung. »Darf ich vorstellen?«, fuhr er an die Frauen gewandt fort. »Marie d’Anjou, nun anerkannte Nichte unseres Königs, Tochter seines verstorbenen Bruders Geoffroy.«
Marie betrachtete stumm die Versammelten. In ihrer Aufregung vermochte sie keinen wirklichen Überblick zu gewinnen, doch konnten es nicht mehr als zehn sein, die meisten davon junge Mädchen, aber sie entdeckte auch ein paar reifere, von feinen Falten überzogene Gesichter. Alle trugen bodenlange Kleider in leuchtenden Farben. Ums Kinn gewickelte Bänder zwängten einige Kiefer zusammen. Kunstvolle Frisuren wurden von Netzen und Spangen in Form gehalten. Verzierte Reifen und dünne Schleier bedeckten frei wallendes Haar. In Gedanken sprach sie nochmals Worte des Dankes an den Ritter, der ihr angemessene Kleidung besorgt und sie daran erinnert hatte, diese kurz vor der Ankunft in Chinon anzuziehen. Sie wollte sich nicht ausmalen, welchen Eindruck sie in ihrem zerschlissenen Leinenkittel gemacht hätte.
Ein hochgewachsenes Mädchen mit leuchtend rotem Haar trat vor.
»Wir hatten schon mit Ungeduld auf die Neue in unserem Kreis gewartet. Das glückliche Bauernkind wurde endlich gefunden«, sagte sie.
Guy de Osteilli räusperte sich, verzog aber keine Miene.
»Nun«, meinte er mit einem Nicken. »Ich darf bekannt machen. Marie d’Anjou und Emma d’Anjou, miteinander verwandt, da die Herren der Familie Anjou schon immer Schwierigkeiten hatten, einem Weiberrock zu widerstehen. Sie sind Tante und Nichte, da von Vater und Sohn jeweils in außerehelicher Leidenschaft gezeugt. Sie wirken aber wie Schwestern, was ihr Alter betrifft.«
Marie starrte neugierig in das Gesicht der Unbekannten, die kaum
Weitere Kostenlose Bücher