Die Dichterin von Aquitanien
einer Weile des Schweigens. »Nun, ihr seid mutig und nicht dumm, nur manchmal etwas frech, das solltet Ihr Euch abgewöhnen. Zeigt dem König, dass Ihr ihm treu ergeben seid und ihm nützlich sein könnt. Solche Menschen behandelt er großzügig. Mit allen anderen verfährt er, wie es ihm beliebt.«
»Wie soll ich dem König nützlich sein können?«, hakte Marie verwirrt nach.
Guy de Osteilli zuckte mit den Schultern. »Es liegt bei Euch, eine Möglichkeit zu finden.«
Marie nickte, obwohl sie diese Antwort nicht besonders hilfreich fand. Sie fühlte sich plötzlich verloren in einer Welt, wo überall Gefahren lauern konnten.
»Denkt Ihr, ich werde am Königshof glücklich sein können?«, fragte sie verunsichert.
Das Gesicht des Ritters wandte sich ihr zu. Mit einem Mal schien es weniger glatt als sonst und war völlig frei von jedem Ausdruck des Spotts. »Wie soll ich Euch das sagen können, Demoiselle?«, meinte er nur. »Ich habe über Euer Schicksal nicht zu entscheiden.«
Bereits am Nachmittag verdunkelten Wolken den Himmel, als hätte der hässliche Vorfall im Wald auch die Sonne in die Flucht geschlagen. Sie erreichten ein Dorf und übernachteten in einer Scheune, was nicht unbedingt dazu beitrug, die Laune des Ritters zu verbessern. Er knurrte, dass er es kaum erwarten konnte, wieder am Königshof zu sein, doch schien auch er erschöpft genug von den Vorfällen des Tages, um bald einzuschlafen. Marie lauschte eine Weile seinem Schnarchen, das so gar nicht zu seiner gepflegten Erscheinung
passte. Eine Weile drangen auch die Geräusche nächtlicher Tiere an ihr Ohr, und sie war froh, Cleopatras Käfig an den Dachbalken festgebunden zu haben, wo er für Ratten kaum zu erreichen war. Dann sank sie endlich ins Reich der Träume.
Noch einige Tage zogen sie durchs Land, durchquerten kleine und größere Orte, wo sie übernachten und Essen kaufen konnten. Marie gewann allmählich wieder Gefallen am Reisen, zumal ihr Rücken nun weniger schmerzte als zu Beginn. An das Reiten konnte man sich in der Tat gewöhnen. Es hätte endlos so weitergehen können, neue Landschaften, Gebäude und Gesichter würden vor ihr auftauchen und anschließend wieder am Horizont verschwinden. Sie war wie ein Blatt, das irgendein Fluss mit sich trieb. Da immer wieder Schweigen zwischen Guy de Osteilli und ihr aufkam, schlug sie dem Ritter schließlich vor, ihm Geschichten zu erzählen. Er nickte zunächst mit mäßiger Begeisterung, als hielte er es für seine unangenehme Pflicht, sich den Launen eines Mädchens zu fügen, doch bald schon erblickte Marie jenes gespannte Funkeln in seinen Augen, das sie bereits von den Dorfkindern kannte. In dem Bestreben, immer neue, aufregende Welten zu schaffen und die Ereignisse in unerwartete Richtungen zu lenken, vergaß sie ihre Umgebung fast völlig. Als Guy de Osteilli sie eines Nachmittags plötzlich unterbrach, war sie zunächst nur verärgert und enttäuscht, seine Aufmerksamkeit diesmal nicht wirklich gefesselt zu haben.
»Da vorn ist Chinon«, hörte sie ihn nochmals und deutlich lauter sagen.
Sie hob den Blick und sah die Umrisse einer riesigen Burg vor grauem Herbsthimmel.
»Können wir dort übernachten?«, fragte sie, mit einem Mal doch neugierig geworden.
»Demoiselle Marie!«, rief der Ritter belustigt. »Dort werden wir auf einem warmen, weichen Lager schlafen und Essen bekommen, das nicht nur den Magen füllt, sondern auch den Gaumen reizt. Und wir müssen so bald nicht wieder aufbrechen, hoffe ich, obwohl man das bei Eurem Onkel nie so genau weiß. Er ist sehr rastlos. Ich hoffe, dass er sich in der Zwischenzeit nicht schon wieder davongemacht hat und wir ihm weiter hinterherlaufen müssen.«
Langsam sickerte die Neuigkeit in Maries Bewusstsein. Ihre Reise war zu Ende, sie hatten ihr Ziel erreicht. Doch mit einem Mal schien ihr die steinerne Burg bedrohlich und finster, fast wie jener Wald, aus dem sie geflohen waren. Sie suchte nach dem Gesicht der schönen Dame in ihrer Erinnerung, hoffte, es würde ihr Trost und Mut schenken. Doch die Umrisse des königlichen Antlitzes waren verblasst, nahmen keine klaren Formen mehr an.
5. Kapitel
S ie ritten durch eine kleine Ortschaft bis zu einem Tor, hinter dem eine Brücke über einen Graben führte. Aus der Nähe betrachtet wirkte die Festung größer als alle Bauten, die Marie während ihrer Reise zu Gesicht bekommen hatte. Wie ein wuchtiger Koloss thronte sie oberhalb der Siedlung. Maries Pferd musste steile Stufen
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