Die Dichterin von Aquitanien
sah, wie die Miene ihrer Tante erstarrte.
»Junge, unverheiratete Mädchen dürfen sich auch ohne Kopfputz in der Öffentlichkeit zeigen«, fuhr Torqueri fort. »Ich denke, wir kämmen dein Haar ein bisschen durch, und dann brauchst du den Schleier nicht mehr.«
Der entschiedene Tonfall ließ Marie erleichtert aufatmen, denn sie konnte ihren Kopf nun auch von dem lästigen Band befreien, das ihre Kiefer zusammenpresste.
»Und nun sollten wir uns langsam für das abendliche Mahl herrichten. Es dämmert bereits«, fügte Torqueri anschließend hinzu.
Sie stiegen die Wendeltreppe hinab, durchquerten Gänge und Räume. Nun war Marie Teil all dieser Frauen geworden, die brav hintereinander herliefen, so wie Gänseküken ihrer Mutter folgen. Schließlich erreichten sie einen riesigen, mit zahllosen Kerzen und Fackeln erleuchteten Saal, wo bereits etliche Leute versammelt waren. Stimmengewirr hallte von den Steinwänden wider. Marie hielt sich an Torqueri, die einigen der anwesenden Männer zunickte, während sie einen der Tische ansteuerte, die in der Mitte des Saals einen Bogen formten. Marie eilte zu einem Platz an ihrer Seite. Kurz bevor sie einen Stuhl erreichen konnte, schien eine unsichtbare Kraft sie rückwärtszuzerren. Sie strauchelte, konnte sich aber an der Tischkante festhalten. In ihrem Rücken spürte sie die hochgewachsene Gestalt ihrer jungen Tante wie einen bedrohlichen Schatten, wandte sich um und erblickte ein spöttisches Lächeln auf Emmas schönem Gesicht.
»Du bist gerade eben auf mein Gewand getreten«, zischte Marie zornig.
Emma zuckte mit den Schultern. »Schon möglich. Es tut mir natürlich sehr leid«, erwiderte sie schnippisch, um gleich
darauf ihren Platz an der Tafel einzunehmen. Marie meinte, an ihrer hilflosen Wut ersticken zu müssen, doch wollte sie nicht gleich am ersten Abend dadurch auffallen, dass sie einen Streit begann.
Torqueri unterhielt sich mit einem unbekannten Herrn im Priestergewand, der rechts neben ihr saß. Marie hatte das halbwüchsige Mädchen an ihrer anderen Seite, das glücklicherweise mit Emma plauderte, sodass sie ihren Blick ungestört durch den Saal schweifen lassen konnte. Auch hier hingen Decken an den Wänden, auf denen in leuchtenden Farben menschliche Gestalten im Kampf und bei Zeremonien abgebildet waren. Auf den Tischen lagen weiße Tücher. Becher standen darauf, ebenso ein paar große Krüge mit Wein und flache Wasserschalen, die vermutlich nicht zum Trinken bestimmt waren, denn einige der Anwesenden reinigten ihre Finger darin. Vor jedem Platz waren ein hölzernes Brett, eine Schüssel, ein Messer und ein Löffel bereitgestellt worden. Immer wieder strömten Menschen herein, sahen sich um, begrüßten einander und verteilten sich an der Tafel. Dort, wo der aus Tischen geformte Bogen sich krümmte, war eine Tribüne, auf der zwei bisher leere, mit Schnitzereien verzierte Stühle standen. Weiter unten gab es keine Stühle mehr, nur noch einfache Bänke. Das Geschirr wurde dort auch einfacher, bestand hauptsächlich aus Holz, während auf der Tribüne und in ihrer Nähe silbernes Besteck und kunstvoll verzierte Pokale im Kerzenlicht glänzten. Marie ahnte, dass Leute hier nach einer vorgegebenen Rangordnung platziert waren. Unter den Eintretenden entdeckte sie Guy de Osteilli und empfand tiefe Erleichterung, ein vertrautes Gesicht zu sehen. Er schien nun noch geschniegelter als während der Reise. Der moosgrüne Kittel, Surcot genannt, wie Marie inzwischen wusste, war gegen ein eindrucksvolleres Exemplar ausgetauscht worden, dessen Farbe
tiefrot war wie der Wein in den Krügen. Eine silberne Spange, auf der bunte Steine leuchteten, hielt den Umhang des Ritters fest. Er trug blütenweiße Beinlinge, und seine Stiefel musste er frisch poliert haben, denn sie blitzten im Kerzenschein. Das lange Haar war nicht mehr vom Wind zerzaust, sondern fiel in weichen Wellen auf seine Schultern. Marie hob die Hand, um ihm zuzuwinken, und freute sich über sein Nicken. Doch gleich darauf nahmen die anwesenden Männer seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Plötzlich fühlte Marie sich einsamer, als sie nach Guillaumes Tod in der Ruine gewesen war. Zahlreiche Menschen umgaben sie, doch niemand schenkte ihr Beachtung.
Ein Jüngling, dessen prächtige Kleidung Guy de Osteilli in den Schatten stellte, trat in die Mitte des Raums.
»Die königlichen Hoheiten!«, verkündete er lautstark. Das Stimmengewirr erstarb, und alle Blicke richteten sich auf die große
Weitere Kostenlose Bücher