Die Dichterin von Aquitanien
schmachten. Einst war es selbstverständlich gewesen, dass sie Guillaume und auch Pierre wichtig war. Doch hier am Hofe fehlten Menschen, die einfach zu ihr gehörten.
Um das Heimweh zu vergessen, rief sie sich das Gespräch mit Hawisa in Erinnerung. Wieder hörte sie die Dienerin einen Namen murmeln, der wild und fremd klang: Rhys ap Gruffydd. Wales schien ihr ein Land, das womöglich Stoff für aufregende Geschichten bieten konnte. Auch darüber würde sie mit Jean hoffentlich reden können.
Der Hofstaat der Königin zog nach Woodstock, um dort mit dem König zusammenzutreffen. Marie erfuhr bereits auf der Hinreise, dass es bei dieser Burg ein Labyrinth und einen großen Park mit seltenen Wildtieren gab, und empfand plötzlich wieder Neugierde auf einen neuen Aufenthaltsort. Gemeinsam mit den anderen Damen konnte sie kostbare, lebende Geschenke anderer Herrscher an den englischen König besichtigen, die ähnlich wie Cleopatra ein Leben hinter Käfigstäben führten. Zum ersten Mal in ihrem
Leben sah sie jenen König der Tiere, den Guillaume ihr mehrfach beschrieben und sogar einmal aufgezeichnet hatte. Der Löwe lag träge in einer Ecke und wirkte erstaunlich friedlich, doch ließ das Spiel seiner Muskeln bei jeder kleinen Bewegung eine Kraft erahnen, die dazu verdammt war ungenutzt zu bleiben. Luchse schlichen unruhig hinter den eisernen Gitterstäben vorbei, und in einem Stall war ein riesiges, hellbraunes Wesen untergebracht, auf dessen Rücken zwei kleine Hügel wuchsen.
»Das ist ein Kamel«, erklärte Torqueri ihren jüngeren Begleiterinnen. »Im Orient wird es als Reit- und Lasttier verwendet, ähnlich wie ein Pferd.«
Staunende Rufe erklangen. Mathilde de Lucy schwor, sich niemals in ihrem Leben freiwillig auf eine derart hässliche Kreatur zu setzen. Während Torqueri geduldig die Vorzüge des Kamels erörterte, das lange Strecken ohne Wasser zurücklegen konnte, überkam Marie ein Gefühl der Schwermut. All diese Tiere befanden sich an einem Ort, der ihnen fremd war und wo ihre Fähigkeiten ungenutzt bleiben mussten. Sie spürte eine seltsame Verbundenheit mit ihnen und war fast erleichtert, als die Hofgesellschaft das Labyrinth aufsuchte. Plaudernd irrten sie zwischen Bäumen und Sträuchern herum, die Wege freigaben, um sie sogleich wieder zu versperren. Schließlich kam Emma auf die Idee, immer in dieselbe Richtung abzubiegen, denn so würden sie niemals zurücklaufen. Marie staunte, denn sie hatte ihrer Tante nicht so viel Verstand zugetraut. Ihr Rat führte sie wieder ins Freie, und sie traten den Weg zum Hauptgebäude der Burg an, um sich für das abendliche Mahl herzurichten.
Der große Saal von Woodstock war prächtig geschmückt worden. Aliénor erschien in einem Bliaut aus glänzend besticktem Damast, der mit Perlen besetzte Ärmel ihrer Chemise freigab und am Saum in einer spitz zulaufenden
Schleppe mündete. Zum ersten Mal seit dem Weihnachtsfest thronte die Krone auf ihrem Haupt. Emma, die ebenfalls viel Mühe aufgewendet hatte, sich herzurichten, erstarrte beinahe beim Erscheinen der Königin. Marie war froh, den allgemeinen Ratschlägen Gehör geschenkt zu haben. Auch sie trug ihr bestes Gewand aus hellrotem Tuch und hatte mit Hawisas Hilfe ihr Haar in eine kunstvolle Flechtfrisur gezwängt. Dies schien ein wichtiger Abend.
Alles begann auf die übliche Weise. Sänger und Jongleure traten auf. Ein breitschultriger Messerwerfer stellte sein Können zur Schau. Die Versammelten johlten begeistert, als er blitzende Klingen durch die Luft fliegen und dicht neben dem Kopf einer hübschen, jungen Frau in einem hölzernen Brett landen ließ. Marie musterte aufgeregt die Versammelten. Guy de Osteilli war offenbar unversehrt geblieben, denn er wirkte so geschniegelt wie immer. Doch nirgendwo unter den Rittern entdeckte sie Jeans Blondschopf. Immer ungeduldiger richtete sie ihren Blick auf die herumhastenden Bediensteten. Zunächst war Jean Page der Königin gewesen, dann musste er zum Knappen aufgestiegen sein. Vielleicht hatte er sich während des Feldzugs blamiert und musste nun zur Strafe einfache Arbeiten verrichten. Aber sie konnte ihn nirgends entdecken.
Plötzlich war das königliche Bellen zu vernehmen.
»Wir haben nun einige Gäste zu begrüßen, die gekommen sind, um uns ihre Aufwartung zu machen.«
Die Tür schwang auf, und drei Männer betraten den Saal, in dem der Klang ihrer schweren Stiefel laut widerhallte. Sie trugen Tunikas und Umhänge aus schwerem, edlem Tuch, doch
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