Die Diebe von Freistaat
diesem Grund mußte jemand ihnen dreimal täglich eine Stärkung bringen, bestehend aus Brot, Käse und einem Getränk aus Honig, Wasser, ein bißchen Wein oder starkem Bier und verschiedenen Gewürzen.
Seit ihrer Anstellung hatte Jarveena keine andere Aufgabe so häufig ausführen müssen wie die Versorgung der Kinder mit dieser Stärkung. So war sie auch gerade dazu unterwegs, als sie einen Offizier bemerkte, den sie dem Namen nach und auch vom Sehen kannte, welcher sich sehr ungewöhnlich benahm. Er war Hauptmann AyeGophlan von der Wachstation an der Ecke der Hauptstraße.
Er achtete nicht auf sie, als er an ihr vorüberkam, doch das war weniger erstaunlich. Sie sah wie ein Junge aus — mehr noch als der pauspackige blonde Bengel, dem sie die Zwischenmahlzeit brachte. Als Melilot sie aufgenommen hatte, war sie ziemlich zerlumpt gewesen, und er hatte darauf bestanden, sie neu auszustatten. Natürlich würde der Preis für die Kleidung von der minimalen Provision abgezogen werden, die sie für ihre Arbeit erhalten sollte. Das war ihr egal. Sie wollte sich ihre neuen Sachen nur selbst aussuchen, und das hatte sie dann auch getan: ein kurzärmeliges Lederwams mit Kreuzverschnürung über der Brust, ein wadenlanges Beinkleid, Stiefel, die darüber reichten, einen breiten Gürtel, an den sie ihre Schreiberausrüstung hängen konnte: die Rohrfedern, den Tintenblock, das Wasserfäßchen, ein Messer zum Spitzen und eine Rolle grobes Schilfpapier; und einen Umhang, der sich des Nachts auch als Decke verwenden ließ. Ihn hielt sie mit einer Silberanstecknadel zusammen — ihr einziges Kleinod. Melilot hatte gelacht und zu verstehen geglaubt. Ihm gehörte ein hübsches Mädchen, ein Jahrjünger als die fünfzehn, die Jarveena eingestand, das die Ohren seiner Lehrlinge puffte, wenn sie ihr in einem dunklen Gang auflauerten, um ihr einen Kuß zu rauben. Und das war ungewöhnlich genug, eine Erklärung zu erfordern.
Doch das hatte nichts damit zu tun. Genausowenig wie die Tatsache, daß sie mit ihrer sonnengebräunten Haut, dem schmalen Körperbau, dem kurzgestutzten schwarzen Haar und den vielen sichtbaren Narben — egal welche Kleidung sie trug—nicht wie ein Mädchen aussah. Es gab genügend Lüstlinge, auch solche von edlem Geblüt, die das Geschlecht jener, denen sie Gewalt antaten, keineswegs interessierte.
Außerdem hatte Jarveena derlei Erfahrungen durchzustehen gelernt; denn wäre es nicht so gewesen, hätte sie Freistatt nie erreicht. So war das nichts, wovor sie sich gefürchtet hätte.
Aber sie weckten ihren tiefsten, bittersten Grimm. Und eines Tages würde einer, der ihren Grimm mehr als andere auf sich herabbeschwor, für zumindest eines seiner zahllosen Verbrechen bezahlen. Das hatte sie geschworen — doch damals war sie erst neun gewesen, und im Lauf der Zeit rückte die Chance, sich zu rächen, immer weiter. Nun glaubte sie schon gar nicht mehr daran. Manchmal träumte sie davon, jemandem das anzutun, was man ihr angetan hatte. Dann erwachte sie laut stöhnend vor Scham und konnte den anderen Schreibergesellen, die den Schlafraum mit ihr teilten - er war das ehemalige Schlafgemach des Edelmanns gewesen, der nun in einer Behausung schnarchte, würgte, ächzte und stöhnte, die eher für Schweine geeignet wäre als für einen Menschen, und sich auf der falschen Seite der prächtig bemalten Decke befand —, das Warum nicht erklären.
Das bedauerte sie ehrlich, denn sie mochte diese jungen Leute. Einige von ihnen kamen sogar aus vornehmen Familien, und sie lernten hier nur, weil es keine anderen Schulen als die der Tempel gab, und dort stopften die Priester den Kindern die Köpfe mit Mythen und Legenden voll, als würden sie in einer Phantasiewelt leben und müßten nicht einmal für sich selbst sorgen. Ohne zumindest ihre eigene Sprache lesen und schreiben zu lernen, würden sie zu leicht den zahllosen gerissenen Betrügern der Stadt zu Opfer fallen.
Aber wie könnte sie sich jenen anvertrauen, die ein geschütztes, verhätscheltes Leben geführt hatten und in ihrem fortgeschrittenen Alter von fünfzehn oder sechzehn noch nie von Abfällen aus der Gosse oder aus schmutzigen Eimern hatten leben müssen?
Hauptmann Aye-Gophlan trug Bürgergewandung, er bildete es sich zumindest ein. Er war keineswegs so reich, sich außer seinen Uniformen besondere Kleidung leisten zu können, wurde von den Gardeoffizieren doch erwartet, daß sie mehrere verschiedene Uniformen besaßen — einen für den Ball zu Ehren
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