Die Diebe von Freistaat
Feuer über ihren ganzen Körper, zeichne jede Narbe, die sie entstellte, jede Peitschenstrieme, jedes Brandmal, jeden Schnitt, jeden Kratzer. Sie hatte es inzwischen vergessen gehabt, doch während jener außergewöhnlichen Nacht, in der sie bei ihm gelegen hatte, hatte er sich die Mühe gemacht, durch die Karte, die ihre Haut war, der Spur ihres ganzen, geschändeten Lebens nachzugehen.
Nun erinnerte sie sich auch, daß sie geglaubt hatte, er habe es aus einem persönlichen, magischen Grund getan. Hatte sie sich vielleicht getäuscht? Konnte es viel simpler gewesen sein? War es möglicherweise ganz einfach deshalb, weil er Mitleid mit jemandem hatte, den das Leben auf andere Weise mit Narben gezeichnet hatte?
»Vielleicht wünschst du dir«, sagte er nun ruhig, »deinen Körper so von der Vergangenheit zu reinigen, wie du nun dabei bist, zumindest glaube ich das, es mit deinem Geist zu tun.«
»Selbst ... ?« Sie brachte es nicht fertig, den Satz mit Worten zu beenden, aber so, wie sie die Hand zur rechten Brustseite hob, war es noch beredter.
»Mit der Zeit. Du bist noch sehr jung. Nichts ist unmöglich. Aber etwas ist nur zu leicht möglich. Wir haben davon gesprochen. Nun mußt du handeln!«
Sie hatten das Tor fast erreicht. Die Menge schob und rempelte sie, und die Leute legten ihre Hände um ihre Geldgürtel und -beutel, denn leichter als jetzt konnten Taschendiebe es nicht haben.
»Ich nehme an, Ihr hättet gar nicht davon gesprochen, wenn Ihr nicht bereits einen neuen Arbeitgeber für mich wüßtet«, sagte Jarveena schließlich.
»Du bist sehr klug.«
»Und wenn Ihr Euch nicht einen langfristigen Vorteil davon erhofftet«:, fuhr das Mädchen fort.
Enas Yorl seufzte. »Für alles gibt es einen langfristigen Zweck. Wenn nicht, wären Zauber unmöglich.«
»So steckte auch ein Zweck dahinter, daß Nizharu die Schriftrolle fallen ließ?« »Fallenließ ...?«
»Oh! Warum habe ich nicht selbst daran gedacht!«
»Mit der Zeit hättest du es bestimmt. Aber du bist noch nicht lange genug in Freistatt, um zu wissen, daß AyeGophlan in seiner frühesten Jugend einer der geschicktesten Taschendiebe der Stadt war. Wie sonst, glaubst du, hätte er sich bei der Wache einkaufen können? Du denkst doch nicht, daß er aus einer begüterten Familie stammt?«
Sie waren nun am Tor und wurden hindurchgequetscht. Jarveena drückte mit einer Hand ihren Schreibkasten fest an sich und legte die andere auf die Silberbrosche, die den eng zusammengerollten Umhang um ihre Taille festhielt, und dachte eingehend nach.
Und faßte einen Entschluß.
Obgleich es ihren bisherigen Hauptlebenszweck nun nicht mehr gab, sah sie keinen Grund, weshalb sie nicht einen anderen finden sollte und vielleicht dazu auch ein bißchen Ehrgeiz. Und wenn dem so war, gab es wiederum guten Grund, zu versuchen ihr Leben zu verlängern, indem sie Freistatt verließ.
Obgleich ...
Erschrocken schaute sie sich nach dem Zauberer um und befürchtete schon, in den Menschenmassen von ihm getrennt worden zu sein; um so erleichterter war sie, als sie ihn am Arm fassen konnte.
»Spielt Entfernung denn eine Rolle?« fragte sie. »Ich meine, wenn mir das Verhängnis beschieden ist, kann ich ihm dann entfliehen?«
»Oh, es muß ja nicht dir beschieden sein. Es ist nur, daß eben zwei Todesurteile auf dem Schriftstück standen und bloß eines vollstreckt wurde. Jeden Tag jedes Jahres sterben Dutzende in jeder Stadt dieser Größe. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß der Zauber hier seine Erfüllung findet. Der Blitz schlägt dort ein, wo das Gewitter tobt, nicht hundert Meilen davon entfernt. Es ist auch durchaus vorstellbar, daß die zweite Vollstreckung für jemanden gedacht ist, der soviel Schuld auf sich geladen hat wie Nizharu durch seine Greueltaten im vergessenen Hain. Er hatte doch Soldaten bei sich, oder nicht?«
»Ja, es waren alles Soldaten, obgleich ich sie sehr lange für Banditen gehalten hatte. O was ist nur aus diesem Land geworden! Ihr habt völlig recht. Ich werde fortgehen, so weit ich nur kann, gleichgültig, ob es mir dadurch gelingen wird, dem Tod zu entgehen, oder nicht!«
Sie faßte seine Hand und drückte sie fest, dann fragte sie leise: »Wie heißt das Schiff, das ich suchen muß?«
An dem Tag, da das Schiff in See stach, war es für Enas Yorl zu gefährlich, sich auf die Straße zu wagen. Zu bestimmten Zeiten nahmen seine Veränderungen Formen an, die niemand, auch nicht mit dem besten Willen, für menschlich halten konnte.
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