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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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hereingebrochen und hatte davor auf der Straße knöcheltiefe schmutzige Schneewehen aus Mehl und Zucker hinterlassen. Mallory suchte sich den Weg durch zerschlagene Gemüsekisten, zermatschte Reineclauden, zerschlagene Gläser mit eingemachten Pfirsichen und die von Stiefeltritten gezeichneten Ballons ganzer geräucherter Schinken. Das verstreute feuchte Mehl zeigte eine Unmenge von Fußspuren: Männerschuhe, die kleinen bloßen Füße von Straßenjungen, die zierlichen Abdrücke von Damenschuhen und die Wischer ihrer Rocksäume.
    Vier dunstverhüllte Gestalten, drei Männer und eine Frau, alle ordentlich gekleidet und mit Stoffmasken vor Mund und Nase geschützt, kamen in Sicht. Als sie ihn bemerkten, überquerten sie die Straße zur anderen Seite. Sie bewegten sich langsam, ohne Eile, und sprachen mit gedämpften Stimmen.
    Mallory ging weiter. Glassplitter knirschten unter seinen Schuhen. Meyers Herrenkleidergeschäft, Petersens Kurzwarenladen, LaGranges Pneumatischer Waschsalon – alle zeigten eingeschlagene Schaufenster und aus den Angeln gerissene Türen. Die Fassaden waren mit Steinen, Ziegelbrocken und rohen Eiern beworfen worden.
    Ein Stück weiter erschien eine geschlossene Gruppe von Männern und jungen Burschen, von denen einige vollbeladene Schubkarren schoben, obwohl sie augenscheinlich keine Straßenhändler waren. In ihren Masken wirkten sie düster und müde, und ihr gemessener Schritt gemahnte Mallory an einen Trauerzug. Vor einem geplünderten Schuhgeschäft machten sie halt und durchsuchten die wahllos verstreuten Schuhe nach zusammenpassenden Paaren.
    Mallory begriff, dass er ein Dummkopf gewesen war. Während er sich in sinnloser Ausschweifung gesuhlt hatte, war in London jegliche Ordnung zusammengebrochen, war die Stadt der Anarchie anheimgefallen. Er sollte jetzt zu Hause im friedlichen Sussex sein, bei der Familie. Er sollte sich an den Vor bereitungen für Madelines Hochzeit beteiligen, in reiner Land luft mit seinen Brüdern und Schwestern, mit gesundem Essen und Trinken. Plötzlich verspürte er Heimweh und fragte sich, welche chaotische Verschmelzung von Lust und Ehrgeiz und Umständen ihn an diesem schrecklichen, bösen Ort festgehalten hatte.
    Mit einem Schreck fiel ihm Madelines Uhr ein. Gottlob hatte er das Hochzeitsgeschenk für seine Schwester mit dem Tragkasten im Tresorraum des Palastes der Paläontologie abgestellt. Die schöne, kunstvolle Uhr wenigstens war nicht in seinem Zimmer verbrannt. Aber der Palast war sieben Meilen von Whitechapel entfernt. Sieben Meilen gesetzloser Anarchie.
    Mallory überlegte, ob die U-Bahnen wieder fuhren, oder die Omnibusse. Vielleicht eine Droschke? Pferde würden in diesem schädlichen Dunst ersticken. Er war auf Schusters Rappen angewiesen. Wahrscheinlich war eine Durchquerung Londons zu Fuß töricht, und wahrscheinlich wäre es am klügsten, sich wie eine Ratte in irgendeinem ruhigen Keller zu verkriechen und zu hoffen, dass die Katastrophe ihn überging. Aber seine Beine marschierten von selbst weiter, und sogar der pochende Kopfschmerz ließ allmählich nach, als seine Gedanken sich auf ein Ziel konzentrierten. Zurück zum Palast. Zurück zu seinem Leben.
    »Hallo! Hören Sie! Sir!« Die Stimme kam von oben herab wie der Ruf eines schlechten Gewissens. Er blickte erschrocken auf.
    Aus einem Fenster im dritten Stock des Geschäftshauses von Jackson Bros., Kürschner und Hutmacher, ragte der schwarze Lauf eines Gewehres. Dahinter machte Mallory den kahlen Kopf eines bebrillten Ladenangestellten in gestreiftem Hemd und scharlachroten Hosenträgern aus, der sich aus dem offenen Fenster beugte.
    »Womit kann ich dienen?«, rief Mallory. Die Redensart kam wie im Reflex heraus.
    »Danke, Sir!« rief der Mann. »Sir, könnten Sie bitte einen Blick auf unseren Ladeneingang werfen – etwas zur Seite, unter den Stufen? Ich glaube – da könnte ein Verletzter liegen!«
    Mallory hob zustimmend die Hand und ging zum Ladeneingang. Die zweiflügelige Tür war intakt, aber von verschiedenen Einbruchsversuchen arg mitgenommen. Ein junger Mann in der gestreiften Bluse und den ausgestellten Hosen eines Seemanns lag ausgestreckt auf dem Gesicht, eine Brechstange neben sich.
    Mallory fasste den derben Stoff der Bluse an der Schulter und wälzte ihn herum. Eine Kugel hatte ihn durch die Kehle getroffen. Er war tot, und seine Nase war vom Pflaster auf die Seite gequetscht, was seinem leblosen jungen Gesicht einen bizarren Ausdruck verlieh, als wäre er aus einem

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