Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
war sichtbar, und unter den Bäumen des Kirchhofes hatte sich eine große Menge versammelt, hauptsächlich aus Männern und Jugendlichen. So unerklärlich es unter den äußeren Umständen scheinen mochte, befanden sie sich in bester Stimmung. Beim Näherkommen sah Mallory zu seiner Verblüffung, dass sie auf den Stufen von Christopher Wrens Meisterwerk mit Würfelspiel beschäftigt waren.
Bald stellte sich heraus, dass sogar die breite Durchgangsstraße der Cheapside von verstreuten Gruppen eifriger und entschlossener Spieler blockiert war. Die Spieler knieten auf dem Pflaster und bewachten ihr Spielkapital aus Münzen und Papiergeld. Eifrige Anführer im Anrichten von Unheil, geriebene, blinzelnde Cockneys, denen der geronnene Gestank der Stadt nichts anzuhaben schien, riefen mit lauten, heiseren Stimmen ihre Aufforderungen, als Mallory vorbeiging. »Ein Shilling zur Eröffnung! Wer geht mit? Wer geht mit, meine Freunde?« Aus den Kreisen der Spieler stiegen die Triumphschreie der Gewinner in den stickigen Dunst, während das zornige Murren und Ächzen der Verlierer von den Masken gedämpft wurde.
Auf jeden kühnen Spieler kamen drei, die schüchtern oder besserwisserisch kiebitzten. Es war wie eine Karnevalsattraktion, eine stinkende und unzulässige Zusammenrottung, aber es war keine Polizei in Sicht, keine Autorität. Mallory schob sich wachsam durch die lockere, aufgeregte Menge, eine Hand am Griff des Revolvers. In einer Durchfahrt traten zwei maskierte Männer einen dritten mit ihren Stiefeln nieder, erleichterten ihn um seine Uhr und Brieftasche. Mindestens ein Dutzend sah mit mäßigem Interesse zu. Niemand schritt ein.
Diese Londoner waren wie ein Gas, dachte Mallory, wie eine Wolke winziger Atome. Sobald die Fesseln der Gesellschaft gesprengt waren, flogen sie einfach auseinander, wie die elastischen, gasgefüllten Kugeln in Boyles Gesetze der Physik. Die meisten von ihnen waren ordentlich gekleidet; die Anarchie hatte den Zwang zum Wohlverhalten von ihnen genommen, und nun zeigte sich die Kehrseite liberaler Politik: das Ignorieren des moralischen Imperativs hatte alle überlieferten sittlichen Grundsätze ausgehöhlt und an ihrer Stelle ein Vakuum hinterlassen. Die Menschen hatten keine Maßstäbe zum Beurteilen oder Vergleichen mehr. Sie waren zu Marionetten niederer Regungen geworden.
Wie die Stammeskrieger der Cheyenne von Wyoming im Teufelsgriff des Alkohols tanzten, hatten die Bewohner des als zivilisiert geltenden London sich primitiver Tollheit hingegeben. Und nach ihren fröhlichen Mienen zu urteilen, hatten sie ihre Freude daran. Nach dem kärglichen Einerlei ihres gewohnten Lebens war dies Herrlichkeit, eine ungestrafte Freiheit zum Bösen, vollkommener und wünschenswerter als alles, was sie je gekannt hatten.
Am Rand der Menge waren frische bunte Handzettel an eine bisher sakrosankte Ziegelwand in der Paternoster Row angeschlagen. Es waren Anzeigen der billigsten und überall anzutreffenden Art, wie sie in ganz London das Auge verfolgte: PROFESSOR RENBOURNE’S MAGNETISCHE KOPF SCHMERZTABLETTEN; BEARDSLEY’S KABELJAUSCHNIT ZEL; MCKESSEN & ROBBINS ZAHNSTEINLÖSENDE ARNIKA-ZAHNSEIFE … und ein paar Theaterankündigungen: MADAME SCABOGLIONI im Saville House am Leicester Square, eine VAUXHALL PANMELODIUM-SINFONIE … Veranstaltungen, dachte Mallory, die sicherlich niemals stattfinden würden, und tatsächlich waren die Plakate mit einer achtlosen Hast angeklebt, die das Papier in vielen Fällen faltig hatte antrocknen lassen. Unter den Anschlägen tropfte frischer Kleister in klebrig weißen Rinnsalen herab, ein Anblick, der Mallory in einer Weise störte, die er sich nicht erklären konnte.
Aber inmitten dieser alltäglichen Werbeplakate, als ob es dort von Rechts wegen seinen Platz hätte, prangte ein großes, aus drei Bogen bestehendes Plakat von der Größe einer Pferdedecke, auf einer Maschine gedruckt und beim hastigen Ankleben zerknittert. Sogar die Druckfarbe schien noch feucht zu sein.
Ein verrücktes Ding.
Mallory blieb davor stehen, betroffen von der primitiven und grotesken Aufmachung. Es war in drei Farben gedruckt – scharlachrot, schwarz und in einem hässlichen Graurosa, das eine Mischung der beiden zu sein schien.
Eine scharlachrote Frau mit Augenbinde – eine Justitia? – in einer unscharf dargestellten scharlachroten Toga schwang ein ebenso scharlachrotes Schwert mit der Inschrift LUDD über den grau-rosa Köpfen zweier sehr primitiv dargestellten Büsten eines
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