Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
»Du sprichst mit einem Veteran der Volksrevolution, einem Soldaten des Volkes, der stolz ist auf die einfache Anrede ›Genosse‹.«
»Dann bitte ich um Entschuldigung.«
»Du bist nicht auf den Kopf gefallen, Ned. Du kannst mich nicht mit einem Lord der Radikalen Partei verwechseln. Ich bin kein bourgeoiser Meritokrat! Ich bin ein Revolutionär und durch Blut und Überzeugung ein Todfeind der Byron-Tyrannei und all ihrer Werke!«
Mallory hustete, räusperte sich. »Also gut, dann«, sagte er in frischerem, schärferem Ton, »was hat all dies Gerede zu bedeuten? London zu besitzen – das kann nicht Ihr Ernst sein! Das ist seit Wilhelm dem Eroberer keinem mehr gelungen.«
»Lies in der Geschichte nach, Freund!«, versetzte der Mark graf. »Wat Tyler schaffte es. Cromwell schaffte es. Und Byron selbst!« Er lachte. »Das Volk hat sich erhoben und die Stadt New York genommen! Das arbeitende Volk beherrscht Manhattan, während wir hier gehen und reden! Sie haben die Reichen liquidiert. Sie haben die Informationsmittel und die Produktion übernommen. Wenn bloße Yankees so etwas können, dann wird das Volk von England, auf dem Weg historischer Entwicklung viel weiter fortgeschritten, es mit noch größerer Leichtigkeit tun.«
Es war Mallory klar, dass der Mann – oder vielmehr der junge Bursche, denn hinter seinen Seidentüchern und seiner Großspurigkeit war er sehr jung – diese schlimme Verrücktheit von ganzem Herzen glaubte. »Aber die Regierung«, erwiderte er, »wird das Militär schicken.«
»Man braucht nur die Offizierskaste umzubringen, und die Mannschaftsdienstgrade werden sich auf unsere Seite stellen und mit uns die Volkserhebung führen«, verkündete der Mark graf mit kühler Selbstgewissheit. »Sieh dir deinen Soldatenfreund Brian an. Er scheint in unserer Gesellschaft froh und zufrieden zu sein! Ist es nicht so, Genosse Brian?«
Brian nickte stumm und winkte bekräftigend mit schlammbeschmierter Hand.
»Du hast das Geniale der Strategie unseres Kapitäns noch nicht erfasst«, fuhr der Markgraf fort. »Wir stehen im Herzen der britischen Hauptstadt, dem einzigen Ort auf Erden, den Britanniens imperialistische Elite in ihrem üblen Streben nach Vorherrschaft zu verwüsten nicht bereit ist. Die Radikalen Lords werden ihr eigenes kostbares London nicht beschießen und niederbrennen, um zu unterdrücken, was sie irrtümlich für eine vorübergehende Periode von Unruhen halten.« Er hob einen behandschuhten Zeigefinger. »Aber wenn wir überall in dieser Stadt Barrikaden errichten und besetzen, werden sie Mann gegen Mann mit einer erregten arbeitenden Klasse kämpfen müssen, Männern, die zum ersten Mal wahre Freiheit kennengelernt haben und bereit sind, sie bis zum Äußersten zu verteidigen!« Der Markgraf hielt inne und sog schnaufend die faulige, heiße Luft ein. »Die meisten Angehörigen der Unterdrückerklasse«, fuhr er hustend fort, »sind bereits aus der Stadt geflohen, um dem Gestank zu entkommen! Wenn sie versuchen zurückzukehren, werden die Massen ihnen mit Feuer und Stahl entgegentreten! Wir werden sie von den Dächern bekämpfen, aus Hauseingängen, Durchfahrten, Kanalschächten und Bordellen!« Er betupfte sich die Nase mit einem Taschentuch aus seinem Ärmel. »Wir werden alle Werkzeuge organisierter Unterdrückung beseitigen. Die Zeitungen, die Telegrafenleitungen und pneumatischen Rohre, die Paläste und Kasernen und Büros! Wir werden sie alle dem großen Ziel der Befreiung opfern!«
Mallory wartete, doch schien es, als ob dem jungen Fanatiker endlich der Dampf ausgegangen wäre. »Und wir sollen dabei helfen, wie? Dieser Volksarmee beitreten?«
»Natürlich!«
»Was springt für uns dabei heraus?«
»Alles«, sagte der Markgraf. »Für alle Zeit.«
An den Hafenkais der Westindiendocks lagen schöne Schiffe vertäut, ein Wald von Segelschiffmasten und Dampferschornsteinen. Das Wasser in den Hafenbecken, durch Kanäle mit den Gezeitenströmungen der Themse verbunden, kam Mallory nicht ganz so widerwärtig und faulig vor, bis er treibende Leichen sah, eingehüllt in dünnen weißlichen Algenbewuchs. Ermordete Seeleute, die Restmannschaften, die von den Reedereien an Bord zurückgelassen wurden, um ihre Schiffe im Hafen zu bewachen. Die aufgedunsenen Körper schwammen zwischen Treibholz und allerlei Unrat, ein Anblick, der ihm kalte Schauer über den Rücken jagte. Mallory zählte fünfzehn, möglicherweise sechzehn Leichen, während er dem Markgrafen den von Kränen
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