Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
Vom Netzwerk:
überragten Kai entlang folgte. Vielleicht, überlegte er, waren die meisten Besatzungsmitglieder anderswo umgebracht worden, oder rekrutiert, die Reihen von Swings Aufrührern zu verstärken. Nicht alle Seeleute standen loyal zu Ordnung und Autorität.
    Der Markgraf und sein Schwarzer führten sie unverdrossen weiter. Sie kamen an einem verlassenen Schiff vorbei, aus dessen Decksluken ein hässlicher Dampf oder Rauch unheil verkündend emporstieg. Vier anarchistische Wächter, die ihre Karabiner zusammengestellt hatten, spielten Karten auf einer Barrikade aus geplünderten Stoffballen.
    Andere Wächter, betrunkene, schnurrbärtige arme Teufel in abgerissenen Kleidern und mit schäbigen Melonen auf dem Kopf, bewaffnete menschliche Wracks, schliefen auf Karren, Kisten und Taurollen inmitten eines Durcheinanders von Fässern, Körben, Ballen und Steinkohlenhaufen für die stillgelegten Dampfkräne. Aus den Lagerhäusern im Süden des Hafenbeckens drang ein abgerissenes Geknatter von Schüssen. Der Markgraf zeigte kein Interesse, verlangsamte mitnichten den Schritt, blickte nicht einmal hinüber.
    »Sie überwältigten all diese Schiffe?«, fragte Mallory. »Sie müssen über eine Menge Männer verfügen, Genosse Markgraf!«
    »Und es werden stündlich mehr«, erwiderte der andere. »Unsere Leute durchkämmen Limehouse und rütteln jede arbeitende Familie auf. Kennst du den Begriff ›exponenzielles Wachstum‹, Genosse Ned?«
    »Wieso, nein«, log Mallory.
    »Ein mathematischer Begriff aus dem Wortschatz der Locher«, erklärte der Markgraf. »Ein sehr interessantes Gebiet, die Lochkarten- und Lochstreifenmaschinen! Überaus nützlich für das wissenschaftliche Studium des Sozialismus …« Er schien jetzt abgelenkt, nervös. »Noch ein Tag Gestank und Hitze wie dieser, und wir werden mehr Leute haben als die Londoner Polizei! Ihr seid nicht die Ersten, die ich rekrutiert habe, weißt du! Inzwischen habe ich Übung darin. Ich wette, sogar Jupiter könnte es inzwischen schaffen!« Er schlug dem Schwarzen auf die livrierte Schulter.
    Der Schwarze zeigte keine Reaktion, und Mallory fragte sich, ob er am Ende taubstumm sei. Er trug keinen Atemschutz. Vielleicht brauchte er keinen.
    Der Markgraf führte sie zu dem größten in einer Reihe von Lagerhäusern. Selbst unter den berühmten Namen des Welthandels – Whitby, Evan-Hare, Aaron, Madras & Pondicherry Co. – war dies ein wahrer Palast merkantiler Modernität. Die riesigen Ladetore ließen sich mittels eines klugen Systems miteinander verbundener Gegengewichte mühelos emporheben und gaben den Blick auf ein Inneres in Stahlskelettbauweise frei, mit einem gewölbten Glasdach, das die Länge und Breite eines Footballplatzes hatte. Unter diesem Dach befand sich ein Labyrinth von Stahlträgern, Streben, Verladebrücken auf Schienen und Laufkatzen, deren Seilzüge von Transmissionsriemen angetrieben wurden. Irgendwo zischten Kolben mit dem vertrauten rhythmischen Geräusch einer Druckmaschine.
    Aber die Druckmaschine war irgendwo hinter den Bergen von Plünderungsgut verborgen, die einen Borgia verblüfft hät ten. Die Waren lagen in Haufen, Bergen: Brokatstoffe, Sessel, Kutschen, Tafelaufsätze und Kronleuchter, Matratzen, Porzellangeschirr, Möbel aller Art, Rasenmähmaschinen, Billardtische und Vitrinen, Bettgestelle und Treppenläufer, zusammengerollte Teppiche und marmorne Kamineinfassungen …
    »Wahrhaftig!«, rief Tom. »Wie habt ihr all das zusammengebracht?«
    »Wir sind schon seit Tagen hier«, sagte der Markgraf. Er zog das Seidentuch von seinem Gesicht und enthüllte ein blasses Antlitz von beinahe mädchenhafter Schönheit mit einem weichen blonden Schnurrbart. »In den anderen Lagerhäusern gibt es noch jede Menge Waren aller Art, und ihr alle werdet Gelegenheit haben, Transportkarren zu beladen. Es ist ein großes Vergnügen. Und es ist euer, denn es gehört uns allen zu gleichen Teilen!«
    »Uns allen?«, fragte Mallory.
    »Natürlich. Allen Genossen.«
    Mallory zeigte auf den Schwarzen. »Auch ihm?«
    »Was, meinem Jupiter?« Der Markgraf zwinkerte verdutzt. »Jupiter gehört natürlich auch uns allen! Er ist nicht allein mein Diener, sondern der Diener des Gemeinwohls.« Der Markgraf schnäuzte sich. »Folgt mir!«
    Die Anhäufung von Plünderungsgut hatte ein monströses Rattennest aus dem wissenschaftlich ausgearbeiteten Speicherplan des Lagerhauses gemacht. Sie folgten dem Markgrafen über Scherben zerbrochenen Kristalls, durch Pfützen von Pflanzenöl

Weitere Kostenlose Bücher