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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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einem märchenhaften dreiköpfigen Ungeheuer geworden, einem häu figem Besucher der höheren Gefilde von Oliphants Vorstellungskraft. Seine Entdeckung der wahrscheinlichen Bedeutung dieser Chiffren, während er Protokolle vom Verhör des William Collins studiert hatte, hatten das Vorstellungsbild nicht auflösen können: Alg-Comp-Mod war immer noch mit ihm, eine Schlangenhals-Schimäre, deren Köpfe in bösartiger Weise menschlich waren. Radleys Gesicht war da, tot und mit klaffendem Mund, die Augen leer wie Nebel, und die kühlen marmornen Züge der Lady Ada Byron, hochmütig und gleichgültig, eingerahmt von Ringellocken, die Beweise einer reinen Geometrie waren. Aber der dritte Kopf, sich geschmeidig wiegend wie der Kopf einer aufgerichteten Kobra, entzog sich Oliphants Blick. Manchmal bildete er sich ein, es sei Edward Mallorys Gesicht, entschlossen und ehrgeizig, hoffnungslos offen. Manchmal aber nahm er die hübschen, giftigen Züge Florence Bartletts an, eingehüllt in Vitrioldämpfe.
    Und manchmal, besonders jetzt, in der klebrigen Umarmung des Gummibades, dem Kontinent des Schlafes entgegentreibend, war das Gesicht sein eigenes, und in seinen Augen war eine namenlose Furcht.
    Am folgenden Morgen verschlief Oliphant – und entschloss sich, im Bett zu bleiben. Bligh brachte ihm Unterlagen aus dem Arbeitszimmer, starken Tee und Toast mit Anchovis. Er las ein Dossier des Außenministeriums über einen preußischen Agenten namens Wilhelm Stieber, der sich als ein emigrierter Zeitungsherausgeber namens Schmidt ausgab. Mit beträchtlich größerem Interesse las er einen Bericht aus der Bow Street über mehrere in letzter Zeit unternommene Versuche, Waffen und Munition als gewöhnliche Fracht deklariert nach Manhattan zu schmuggeln. Diesen Bericht versah er mit Anmerkungen. Die nächste Akte bestand aus maschinengedruckten Kopien mehrerer Briefe eines Mr. Copeland aus Boston. Mr. Copeland, der als Holzhändler viel reiste, stand in briti schem Sold. Seine Briefe beschrieben das System der Befestigungen zur Verteidigung der Halbinsel von Manhattan, mit umfangreichen Notizen über die vorhandenen Geschütze. Oliphants geübter und erfahrener Blick ging flüchtig über Copelands Beschreibung der Südbatterie auf Governor’s Island, die nach der Beschreibung ein Relikt aus den Zeiten des ersten Napoleon sein musste, und gelangte rasch zu einer Meldung über Gerüchte, dass die Kommune in der Oberen Bucht beim Zusammenfluss von East River und Hudson eine Minensperre gelegt habe.
    Oliphant seufzte. Er bezweifelte sehr, dass die Schifffahrtskanäle vermint worden waren, aber die Führer der Kommune würden sicherlich wünschen, dass die Weltöffentlichkeit dem Bericht glaubte. Was auch bald der Fall sein mochte, wenn es nach den Herren der Freihandelskommission ginge.
    Bligh war an der Tür.
    »Sie haben eine Verabredung mit Mr. Wakefield, Sir, im Zentralamt für Statistik.«
    Eine Stunde später begrüßte ihn Betteredge am offenen Schlag einer Droschke. Oliphant stieg ein und setzte sich. Plissierte Rollos aus wasserdichtem schwarzen Segeltuch waren heruntergelassen und schlossen das Innere der Droschke gegen die Half Moon Street und die milchige Novembersonne ab. Als der Kutscher das Droschkenpferd mit einem Zügelklatschen zum Anfahren brachte, öffnete Betteredge einen Kasten zu seinen Füßen, nahm eine Lampe heraus, die er schnell und geschickt anzündete und mit einem Messingapparat aus Schrauben und Bolzen an der Armlehne des Sitzes befestigte. Das Innere des Kastens glitzerte wie ein Miniaturarsenal. Er gab Oliphant einen karmesinroten Aktendeckel.
    Oliphant schlug die Akte auf, in der die Umstände des Todes von Michael Radley nach der Rekonstruktion des Tatherganges dargelegt waren.
    Er selbst war mit dem General und dem armen, todgeweihten Radley im Rauchsalon gewesen. Die beiden hatten dem Alkohol stark zugesprochen. Radleys Trunkenheit war die manierlichere, weniger berechenbare und gefährlichere gewesen. Houston hingegen hatte seine Freude daran gehabt, den barbarischen Amerikaner vorzuführen; schwitzend, fluchend, mit blutunterlaufenen Augen lag er in einen Sessel gefläzt da, einen schmutzigen derben Stiefel auf einer Ottomane, den anderen auf dem Rauchtisch. Während Houston redete und rauchte und spuckte, Oliphant und Großbritannien mit Verwünschungen überhäufte, schnitzte er verdrießlich an einem Stück Fichtenholz, eine Tätigkeit, die er in Abständen unterbrach, um die Klinge seines

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