Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
Vom Netzwerk:
Englische gesellschaftliche Festlichkeiten sind immer erfreulich.« Mori strahlte.
    »Dann werden wir nach Whitechapel fahren und das Garrick-Theater besuchen, um dort eine, wie ich höre, höchst ungewöhnliche Pantomime zu sehen.«
    Nach dem unregelmäßig gerasterten Programm war der Clown als »Wisperdohle« bekannt, doch war dies der vielleicht am wenigsten eigentümliche Aspekt dieser Abendvorstellung von der Roten Pantomimentruppe der Frauen von Manhattan, das unter dem Titel Mazulem die Nachteule lief. Andere Gestalten waren »Freedman Bill, ein schwarzer Junge«, »Levy Stickemall, ein Händler, der zwei Zigarren für fünf Cents anbietet«, »ein Yankee-Hausierer«, »eine Ladendiebin«, »ein Gebratener Truthahn« und die namengebende »Mazulem«.
    Alle Darsteller waren, nach dem Programm zu urteilen, weiblichen Geschlechts, obwohl dies in mehreren Fällen unmöglich zu bestimmen gewesen wäre. Der Clown, herausgeputzt mit Halskrause und paillettenbesetztem Satin, trug eine Glatze zur Schau, und das unheimliche Weibgesicht des Pierrot hatte Farbe nur auf den nachgemalten Lippen.
    Der Vorstellung war eine kurze, schwülstig-theatralische Ansprache einer gewissen Helen America vorausgegangen, deren wogender und anscheinend unbeengter Busen – durch Schichten transparenter Schleier erkennbar – offenbar dazu diente, die Aufmerksamkeit des vorherrschend männlichen Publikums zu fesseln. Ihre Rede hatte aus Schlagworten bestanden, die Oliphant mehr geheimnisvoll als erregend fand. Was genau meinte sie zum Beispiel, wenn sie erklärte: »Wir haben nichts zu tragen als unsere Ketten …«?
    Bei abermaligem Studieren des Programms wurde er informiert, dass Helen America tatsächlich die Autorin von Mazulem die Nachteule war, ebenso wie der Pantomimen Harlequin Panattahah und Die Genien der Algonkins.
    Für die musikalische Begleitung sorgte eine mondgesichtige Organistin – in ihren Augen, so schien es Oliphant, glitzerte entweder der Wahnsinn oder Laudanum.
    Die Pantomime hatte in einem Raum begonnen, der, wie Oliphant vermutete, ein Hotelrestaurant sein sollte, wo der peripatetische Gebratene Truthahn – anscheinend von einem Zwerg dargestellt – die Gäste mit einem Tranchiermesser angriff. Oliphant hatte sehr bald den Faden der Handlung verloren, wenn es überhaupt eine Handlung gab – was er bezweifelte. Einzelne Szenen wurden wiederholt dadurch hervorgehoben, dass die Darsteller einander imitierte Ziegelbrocken an die Köpfe warfen. Es gab auch eine kinotropische Begleitung, die jedoch nur aus primitiv-polemischen Karikaturen bestand, welche kaum in einer Beziehung zu der Handlung zu stehen schienen.
    Oliphant warf Mori, der neben ihm saß und den hochgeschätzten Zylinder aufrecht auf dem Schoß hielt, einen verstohlenen Seitenblick zu. Das Gesicht des Japaners war ausdruckslos. Das Publikum war lärmend und rowdyhaft, doch war sein Geheul weniger eine Reaktion auf den Inhalt der Pantomime, von welcher Art dieser auch sein mochte, als vielmehr auf die wurlenden, seltsam ungeordneten Tänze der Kommunardenfrauen, deren bloße Waden und Knöchel unter den zerfetzten Säumen ihrer fließenden Gewänder deutlich sichtbar waren.
    Oliphants Rücken begann zu schmerzen.
    Die Choreographie beschleunigte das Herumspringen zu einem ballettmäßigen Sturmangriff, und eine Weile war die Luft dick von Ziegelbrocken, bis Mazulem die Nachteule ziemlich abrupt endete.
    Die Menge pfiff, applaudierte, brüllte. Oliphant bemerkte einen ungeschlachten Mann mit einem dicken Rattanstock über der Schulter, der beim Eingang herumlungerte. Der Mann beobachtete das Publikum mit zusammengekniffenen Augen.
    »Kommen Sie, Mr. Mori. Ich wittere eine journalistische Gelegenheit.«
    Mori stand auf, Hut und Spazierstock in der Hand. Er folgte Oliphant zum Orchestergraben und dem Ausgang.
    »Laurence Oliphant, Journalist.« Er präsentierte dem Mann seine Visitenkarte. »Wenn Sie so gut sein wollen, diese Karte Miss America mit meiner Bitte um ein Interview zu übergeben.«
    Der Mann nahm die Karte, warf einen Blick darauf und ließ sie zu Boden fallen. Oliphant sah, wie die knotige Faust ihren Griff um den Rattan festigte. Mori stieß zischend den Atem aus, wie durch ein Sicherheitsventil. Oliphant wandte sich um. Mori, der den Zylinder aufgesetzt hatte, stand in der Haltung eines Samurai, den Griff seines Spazierstockes in beiden Händen. Makellos weiße Manschetten und goldene Knöpfe leuchteten an seinen kräftigen

Weitere Kostenlose Bücher