Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
aufrichtig ausgesehen hatten, und nun rückten die dreisten und berechnenden Gauner ihm wie Läuse auf den Pelz.
Ein zweiter Stapel waren die geschäftlichen Briefe. Einladungen zu Vorträgen, Anfragen nach Interviews, Rechnungen von Ladenbesitzern, Angebote von Knochenmännern und Gesteinsschnüfflern, die wie er Anhänger der Katastrophentheorie waren und ihn als Mitautor gelehrter Abhandlungen gewinnen wollten.
Dann die Briefe von weiblicher Hand. Die Bruthennen der Naturgeschichte – Huxley nannte sie »Blumenschnipsler« Sie schrieben zu Dutzenden, die meisten begnügten sich jedoch mit Autogrammwünschen. Andere schickten ihm hübsche Skizzen von gewöhnlichen Eidechsen und erbaten sein Fachurteil in der Taxonomie von Reptilien. Andere brachten eine feinsinnige Bewunderung zum Ausdruck, mitunter begleitet von Versen, und luden ihn zum Tee ein, sollte er einmal nach Sheffield oder Nottingham oder Brighton kommen. Und einige wenige, die sich meist durch spitzige Handschrift, dreifache Unterstreichungen und Haarlocken mit Bändern auszeichneten, drückten warme weibliche Bewunderung aus, und dies in so kühnen Ausdrücken, dass es ihn unschwer aus der Fassung bringen konnte. Die Zahl dieser Briefe hatte vorübergehend stark zugenommen, nachdem sein idealisiertes Porträt von der Hand eines Künstlers in einer der meistgelesenen Frauenzeitschriften erschienen war.
Plötzlich hielt er inne. Beinahe hätte er einen Brief von seiner Schwester Ruth ungelesen beiseitegelegt. Die liebe kleine Ruth – aber inzwischen war das Baby der Familie gute siebzehn Jahre alt. Sofort öffnete er den Brief und las:
Lieber Ned,
ich schreibe Dir nach Mutters Diktat, weil ihre Hände heute ganz schlecht sind. Vater dankt Dir sehr für die prachtvolle Schoßdecke aus London. Das französische Einreibmittel hat meinen Händen (Mutters) sehr gutgetan, aber mehr noch in den Knien. Wir alle vermissen Dich sehr in Lewes, obwohl wir wissen, dass Du mit Deinen großen Angelegenheiten der Royal Society viel beschäftigt bist! Wir lesen laut jedes Deiner amerikanischen Abenteuer, wie Mr. Disraeli sie für die Familienzeitschrift niedergeschrieben hat. Agatha fragt, ob Du ihr bitte ein Autogramm von Mr. Disraeli besorgen kannst, weil sein »Tancred« ihr Lieblingsroman ist! Aber unsere große Neuig keit ist, dass unser lieber Brian aus Bombay zurückgekommen und an diesem heutigen 17. Juni gesund und wohlauf bei uns ist! Und er hat unseren lieben künftigen Schwager, Leutnant Jerry Rawlings, auch von der Sussex-Artillerie, mitgebracht, der unsere Madeline gebeten hatte, auf ihn zu warten, was sie natürlich tat. Jetzt werden sie bald heiraten, und Mutter lässt dir besonders ausrichten, dass die Trauung NICHT in einer Kirche sein wird, sondern eine Ziviltrauung mit dem Standesbeamten Mr. Witherspoon im Rathaus von Lewes. Wirst Du am 29. Juni kommen, wenn Vater beinahe seine letzte Braut weggibt? – Ich wollte das nicht schreiben, aber Mutter wünschte es.
All unsere Liebe,
Ruth Mallory
So war die kleine Madeline endlich mit ihrem Zukünftigen vereint. Das arme Geschöpf! Vier Jahre waren eine lange Verlobungszeit, und noch sorgenvoller, wenn man mit einem Soldaten in einem tropischen Pestloch wie Indien verlobt war. Sie hatte mit achtzehn seinen Ring genommen und war jetzt fast zweiundzwanzig. Eine lange Verlobungszeit war für ein junges und lebhaftes Mädchen eine grausame Prüfung, und Mallory hatte bei seinem letzten Besuch gesehen, dass die Jahre Madeline reizbar und scharfzüngig gemacht hatten, beinahe zu einer Plage für den Haushalt. Bald würde außer der kleinen Ruth niemand mehr zu Hause sein, um für die alten Leute zu sorgen. Und wenn Ruth heiratete – nun, um diese Angelegenheit würde er sich zur rechten Zeit kümmern. Mallory kratzte sich den verschwitzten Bart. Madeline hatte ein schwereres Leben gehabt als Ernestina, Agatha und Dorothy. Sie sollte ein schönes, persönliches Geschenk bekommen, beschloss Mallory. Ein Hochzeitsgeschenk, das beweisen würde, dass ihre unglückliche Wartezeit ein Ende hätte.
Mallory trug den Korb mit seiner Post in sein Zimmer, stapelte die Briefe neben seinem überladenen Schreibtisch auf den Boden und verließ das Gebäude. Auf dem Weg hinaus gab er den Korb beim Empfang ab.
Eine Gruppe Quäker, Männer und Frauen, standen draußen auf der Straße. Sie leierten gemeinsam ihre unsäglichen, im Predigerton vorgetragenen Lieder, etwas über eine »Eisenbahn zum Himmel«, wenn er sich
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