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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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nicht verhört hatte. Das Lied schien nicht viel mit Evolution, Blasphemie oder Fossilien zu tun zu haben; aber vielleicht hatte die schiere Monotonie ihrer vergeblichen Proteste sogar die Quäker erschöpft. Er eilte an ihnen vorüber, ließ ihre dargebotenen Pamphlete unbeachtet. Es war heiß, ungewöhnlich heiß, ja, geradezu bestialisch heiß. Dabei war der Himmel bedeckt, aber die Luft war völlig unbewegt, und die hohe, dunstige Wolkendecke hatte ein bleiernes, düsteres Aussehen, als ob sie regnen wollte, aber vergessen hätte, wie es gemacht wird.
    Mallory ging die Gloucester Road hinunter zur Ecke der Cromwell Road. Hier stand ein feines neues Reiterstandbild von Oliver Cromwell; Cromwell war ein großer Favorit der Radikalen Partei. Und es gab eine Bushaltestelle, sechs kamen in einer Stunde vorbei, aber sie waren alle überfüllt. Niemand wollte in diesem Wetter zu Fuß gehen.
    Bei der Untergrundbahn Ecke Gloucester Road und Ashburn Mews versuchte Mallory sein Glück. Als er gerade die Treppe hinuntergehen wollte, kam ihm ein kleiner Schwarm Fahrgäste die Treppe herauf entgegen; sie eilten halb im Laufschritt, auf der Flucht vor einem Gestank von solcher Intensität, dass er ihn auf der Stelle zum Stehen brachte.
    Die Londoner waren seltsame Gerüche von ihren Unter grundbahnen gewohnt, aber dieser Gestank war offensichtlich von einer völlig anderen Größenordnung. Verglichen mit der dumpfen Hitze der Straßen war die Luft kühl, aber sie hatte einen tödlichen Geruch, wie etwas, was von anaeroben Bakterien in einem luftdicht verschlossenen Einmachglas zersetzt worden ist. Mallory ging zum Fahrkartenschalter; er war geschlossen, aber man hatte ein Schild ausgehängt: WIR BITTEN, DIE UNANNEHMLICHKEIT ZU ENTSCHULDIGEN . Keine Erwähnung der tatsächlichen Natur des Problems.
    Mallory kehrte um. Vor Bailey’s Hotel in der Courtfield Road gab es Pferdedroschken. Er wollte eben die Straße überqueren, als er eine Droschke ganz nahe an der Bordsteinkante warten sah, anscheinend unbesetzt. Er signalisierte dem Kutscher und ging zur Tür. Im Inneren saß noch ein Passagier, den er zuvor nicht gesehen hatte. Mallory wartete höflich, dass der Mann aussteige. Stattdessen drückte der Fremde, dem Mallorys Blick unangenehm zu sein schien, ein Taschentuch an sein Gesicht und ließ sich zurücksinken. Er begann zu husten. Vielleicht war der Mann lungenkrank? Oder war er gerade aus der Untergrundbahn heraufgekommen und rang noch nach Luft?
    Verdrießlich überquerte Mallory die Straße und nahm eine Droschke vor Bailey’s Hotel. »Piccadilly«, orderte er. Der Kutscher schnalzte, und sein schwitziger Klepper setzte sich in Bewegung, die Cromwell Road hinauf nach Osten. Einmal unterwegs, mit einer leichten Brise am Fenster, wurde die Hitze weniger drückend und Mallorys Stimmung besserte sich. Cromwell Road, Thurloe Place, Brompton Road – in ihren gigantischen neuen Bebauungsplänen hatte die Regierung diese Gegenden von Kensington und Brompton für eine Versammlung von Museen und Palästen der Royal Society reserviert. Nacheinander passierten sie vor seinem Droschkenfenster Revue in ihrer nüchternen Pracht von Kuppeln und Säulenvorhallen: Physik, Wirtschaft, Chemie … Man mochte sich über manche Neuerungen der Radikalen beklagen, dachte Mallory, aber es ließ sich nicht leugnen, dass es vernünftig und gerecht war, angemessene Hauptquartiere der Gelehrsamkeit für Wissenschaftler zu errichten, die sich dem edelsten Werk der Menschheit widmeten. In dem Dienst, den sie der Wissenschaft erwiesen, hatten diese Paläste ihre hohen Baukosten mindestens ein Dutzend Male zurückgezahlt.
    Nach Knightsbridge und vorbei am Hyde Park zum Triumphbogen Napoleons, einem Geschenk Louis Napoleons zur Erinnerung an die anglofranzösische Entente. Der große eiserne Torbogen mit seinem üppigen Skelett aus Trägern, Streben und Nieten trug eine große Zahl von geflügelten Amoretten und unvollkommen verhüllten Damen mit Fa ckeln. Ein hübsches Monument, dachte Mallory, und im neues ten Geschmack der Zeit. Seine elegante Festigkeit schien zu leugnen, dass es jemals eine Spur von Zwietracht zwischen Großbritannien und seinem treuesten Verbündeten, dem kai serlichen Frankreich, gegeben hatte. Vielleicht, überlegte Mal lory, konnten die »Missverständnisse« der Napoleonischen Kriege dem Tyrannen Wellington in die Schuhe geschoben werden.
    Zwar besaß London kein Denkmal des Herzogs von Wellington, doch manchmal schien es

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