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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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Mallory, dass unausgesprochene Erinnerungen an den Mann wie Geister, die nicht zur Ruhe kommen konnten, noch immer die Stadt heimsuchten. Einst hatte man den großen Sieger von Waterloo hier in den Himmel gehoben und als den Retter der britischen Nation gefeiert; Wellington war in den Herzogstand erhoben worden und hatte als Duke das höchste Amt im Land bekleidet. Aber im modernen England wurde er als ein renommiersüchtiger Unhold verleumdet, ein zweiter König Johann, Schlächter seines eigenen unruhigen Volkes. Die Radikalen hatten ihren Hass gegen ihren frühen und gefährlichen Feind niemals vergessen. Eine Generation war seit Wellingtons Tod dahingegangen, aber Premierminister Byron hielt die Erinnerung an den Herzog noch immer oft und gern mit der ätzenden Säure seiner furchtbaren Beredsamkeit feucht.
    Mallory, obschon ein loyaler Anhänger der Radikalen Partei, blieb unbeeindruckt von rhetorischen Verteufelungen und Beschimpfungen; er hatte seine eigene Meinung von dem längst verstorbenen Tyrannen. Auf seiner ersten Reise nach London im Alter von sechs Jahren hatte er einmal den Herzog von Wellington gesehen, wie er in seiner vergoldeten Kutsche vorbeigefahren war, eskortiert von einer klirrenden Abteilung Kavallerie. Und der kleine Mallory war ungeheuer beeindruckt gewesen, nicht allein von diesem berühmten, hakennasigen Gesicht über dem hohen Stehkragen, schnurrbärtig, gepflegt, streng und schweigend, sondern auch von der Ehrfurcht und Freude seines eigenen Vaters beim Anblick des Herzogs.
    Ein ferner Nachhall jenes Kindheitserlebnisses in London – im Jahre 1831, dem ersten Jahr der Umwälzungen und dem letzten des alten Regimes in England – klang jedesmal in ihm an, wenn er die Hauptstadt besuchte. Nur wenige Monate später, in Lewes, hatte sein Vater gejubelt, als die Nachricht von Wellingtons Tod durch einen Bombenanschlag gekommen war. Aber Mallory hatte insgeheim geweint, aus Gründen, an die er sich nicht erinnern konnte, zu bitterer Trauer bewegt.
    Sein gereiftes Urteil sah den Herzog von Wellington als das von der Zeit überholte, unwissende Opfer einer Umwälzung, die über sein Verstehen hinausgegangen war – somit mehr Karl I. denn König Johann. Wellington hatte in falscher Einschätzung der Lage im Land die Herrschaft des dekadenten, schon im Niedergang befindlichen Adels verteidigt, einer Klasse, der es bestimmt war, vom aufsteigenden Bürgertum und der rasch wachsenden Bedeutung der wissenschaftlich- technischen Eliten abgelöst zu werden. Aber Wellington selbst war kein Adliger gewesen; er hatte einst Arthur Wellesley geheißen, von ziemlich bescheidener irischer Herkunft.
    Des Weiteren schien es Mallory, dass Wellington als Heerführer und militärischer Stratege eine sehr lobenswerte Meisterschaft gezeigt hatte. Nur als ziviler Politiker und reaktionärer Premierminister hatte Wellington den unaufhaltsamen Prozess des aufkommenden Zeitalters der Industrialisierung und Wissenschaft gründlich unterschätzt. Er hatte für diesen Mangel an Weitblick mit seiner Ehre, seiner Macht und seinem Leben bezahlt.
    Und das England, welches Wellington gekannt und schlecht regiert hatte, das England von Mallorys Kindheit, war durch Streiks, Manifeste und Demonstrationen zu Aufruhr, Kriegsrecht, Massakern in offenen Bürgerkrieg und nahezu völlige Anarchie abgeglitten. Nur die Radikale Partei, mit ihrer kühnen und rationalen Vision einer umfassenden neuen Ordnung, hatte England vor dem Abgrund gerettet.
    Aber trotzdem, dachte Mallory. Trotzdem sollte es irgendwo ein Denkmal geben …
    Die Droschke passierte Down Street, White Horse Street, Half Moon Street. Mallory durchblätterte sein Notizbuch und fand Laurence Oliphants Visitenkarte. Oliphant wohnte in der Half Moon Street. Mallory war geneigt, die Droschke anzuhalten und zu sehen, ob Oliphant zu Haus war. Wenn Oliphant vielleicht vor zehn Uhr aufstand, mochte er irgendwo in seinem Haushalt einen Eimer mit Eis haben und vielleicht einen Tropfen von was auch immer, ganz einfach zum Öffnen der Poren. Die Vorstellung, ungeniert bei Oliphant hereinzuplatzen, seinen Tageslauf zu unterbrechen und ihn vielleicht bei irgendeiner verdeckten Intrige zu überraschen, erheiterte Mallory.
    Aber zuerst das Wichtige. Vielleicht würde er bei Oliphant anläuten, sobald er seinen Gang erledigt hatte.
    Er ließ die Droschke am Eingang zur Burlington Arcade halten. Gegenüber ragte die gigantische, in Eisen gerahmte Zikkurat von Fortnum & Mason inmitten

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