Die digitale Gesellschaft - Lüke, F: Die digitale Gesellschaft
Fernsehstation gegangen, um daraus ein Magazin zu machen, hätte man ihn entweder ausgelacht oder nur verständnislos den Kopf geschüttelt. Im Internet gibt es dafür eine Möglichkeit: Gut 20 000 Menschen schauen sich laut Betreiber Björn Rosenthal, der seit Jahren hauptberuflich beim Auslandsrundfunk Deutsche Welle Videos produziert, jede Folge des Videopodcasts CarpheartTV an. Das sind nicht besonders viele Menschen. Aber es ist eine kleine, feine Community mit bestimmten Interessen und Bedürfnissen.
Das Internet befördert das, was man neudeutsch »Unbundling«, Entbündelung, nennt: Früher hat man die ganze Zeitung,also das Gesamtprodukt, gekauft, die Inhalte überflogen und dann gelesen, was interessant erschien. Heute werden aus dem Informationsangebot nur noch die Rosinen herausgepickt. Den Rest muss man nicht mehr beachten. Der ganze Prozess hat sich verändert. Die neue Technik macht es auch möglich, den Zeitpunkt des Medienkonsums weit individueller zu bestimmen als früher und Sendungen unabhängig vom Sendetermin abzurufen. Früher hieß es: »Hast du das gestern im Fernsehen gesehen?« Wenn das nicht der Fall war, dann hatte man eine Sendung tatsächlich verpasst. Heute kann man antworten: »Noch nicht, aber bald.« Die Werbung davor, das ›Heute Journal‹ danach – beides geht an uns vorbei.
Auf diese Entwicklung gibt es mehrere Sichtweisen. Da gibt es zum Beispiel die Journalisten, die gewohnt sind, ein fertiges Produkt in einem definierten Umfeld abzuliefern: Der Radiomann steckt in einem festen Korsett von Abläufen, er hat teils sekundengenaue Vorgaben, wann welches Element in seiner Sendung vorkommt. Zeitungsmacher müssen mit dem begrenzten Platz ihrer Seiten sparsam umgehen. Fernseh-Sendeplaner haben eine feste Choreografie für ihre Sendungen festgelegt. Sie alle haben das Gefühl, dass sie mit ihrer Entscheidung über den Zeitpunkt der Sendung oder die Platzierung die Wichtigkeit festlegen: Ein Aufmacher oder doch eher eine Randspalte, nach Mitternacht oder zur Prime Time?
Nun kommen plötzlich die Konsumenten aus den Ohrensesseln gekrochen. Sie möchten die Angebote dann anschauen, hören, lesen, wenn es ihnen in den Kram passt. Sie klicken einfach auf das, was ihnen gefällt, was sie interessiert und bewegt. Sie ignorieren die redaktionelle Zusammenstellung, das Umfeld und greifen einfach das Kernstück ihres Interesses ab. Viele Journalisten fühlen sich bei ihrer Arbeit dadurch – und das nicht zu Unrecht – ein Stück weit ihrer früheren Macht beraubt. Was wird aus den Themensetzern, den Entscheidern, wenn sie jederzeit und überall mit einem lustigen YouTube-Film konkurrieren müssen? Und führt es nicht zwangsläufig zur vollkommenen Verblödung und Fragmentierung unserer Gesellschaft, wenn jeder nur noch das liest, sieht und hört, was er lesen, sehen und hören will?
Anfang November 2011 fanden in Stuttgart die Jugendmedientagestatt. Falk Lüke war eingeladen worden, um dort mit anderen Journalisten vor einem Publikum aus potenziellen Nachwuchsjournalisten über die »Infoflut« zu diskutieren. Journalisten müssen von Berufs wegen große Mengen Informationen sichten, sortieren und bewerten können. Was ist wichtig, was kann weg? Wo kann man mit eigener Recherche anknüpfen? Für viele festangestellte Journalisten gibt es feste Rituale: zum Frühstück zwei, drei Tageszeitungen überfliegen, beim Zähneputzen und auf dem Weg in die Redaktion Deutschlandfunk hören, dann ist man für die Themenkonferenz des Tages gerüstet. Und am Abend dann natürlich die Tagesschau um 20 Uhr gucken, damit man sieht, was die Fernsehkollegen für wichtig erachten und was vielleicht am nächsten Tag auch noch relevant sein könnte. Ein solches Verhalten wird auch nach wie vor von den Nachwuchsjournalisten erwartet. Einer der Mitdiskutanten fragte die circa 50 anwesenden angehenden Journalisten, ob sie denn die ›Tagesschau‹ sehen würden. Fast alle hoben die Hand, und der Kollege schien erleichtert: Es ändert sich ja gar nicht alles. Falk Lüke fragte nach, wann und wie das stattfindet. Fast alle sehen die ›Tagesschau‹ nicht mehr im Fernsehen, sondern über das Onlineangebot der ARD – dann, wenn sie es für richtig erachten. Nicht, wenn ihnen der Sender die Hauptnachrichten auf dem klassischen Sendeplatz um acht Uhr serviert.
Tatsächlich leiden die lautesten Kritiker der Unbundling-Entwicklung an einiger Selbstüberschätzung. Die Nachrichtenunterbrechung
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