Die Diktatorin der Welt
Videospiel; aber er hatte Jernigans Geschicklichkeit im Umgang mit Schaltkreisen, elektronischen Bauteilen und Lötschweißgeräten kennengelernt.
»Der Rest«, schloß Jernigan, »war einfach. Die Zellenkraftfelder werden von einer zentralen Schalttafel in der Wachstube bedient. Der Polizist hatte damit geprahlt, daß man Sie hinter einem undurchdringlichen Feld gefangenhielt. Ich schaltete das Feld aus. Das Türschloß war unkompliziert. Ich brauchte weniger als eine Minute, um es zu öffnen.«
Sie schritten weiter. Die Stadt war düster und still. Ein paar hundert Meter straßauf leuchtete ein buntes Lichtsignal. ROHRB HN, entzifferte Ken. Das A war ausgefallen.
»Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet«, sagte er zu Jernigan. »Außerdem schulde ich Ihnen eine Bitte um Verzeihung. Ich hielt Sie eine Zeitlang für einen Verräter.«
»Ich rechnete damit«, antwortete Jernigan fast vergnügt.
»Trotzdem wollte ich Sie tun etwas bitten«, fuhr Ken fort. »Das nächste Mal, wenn Sie etwas Ähnliches vorhaben – sagen Sie mir vorher Bescheid. Es, ich glaube, es macht die Sache leichter.«
Sie erreichten das Leuchtzeichen. Von der Straßenebene führte eine schmale, langsam laufende Rolltreppe in den unterirdischen Rohrbahnhof hinab. Als sie hinunterglitten, drehte Ken sich noch einmal um und starrte in den dunklen Himmel hinauf.
Hoch über ihnen leuchtete grell und kalt in bläulichem Schimmer das Zeichen des Chi-Bar.
*
Der Bahnhof war leer und klein. Periklon war eine unwichtige Stadt, die nur wenige Rohrbahnlinien mit der Umwelt verbanden. Das Zentrum des Bahnhofs bildete eine runde, hell erleuchtete Verteilerhalle, von der aus sechs Kanäle zu sechs verschiedenen Anschlüssen führten. In der Halle standen Verkaufsautomaten, einschließlich der Maschinen, an denen der Fahrgast sich mit Billets versorgte. Es gab Waschräume und ein kleines Automatrestaurant, dessen Auslage jedoch dunkel war.
Die Billetmaschine besaß ein Register, mit dessen Hilfe der Fahrgast sich über die Reiseroute zu seinem Ziel informieren konnte. Insgesamt fünfzigtausend Ziele waren aufgeführt. Jernigan bediente die Drucktasten mit solcher Fertigkeit, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Auf einer kleinen Mattscheibe erschien eine Landkarte, die mit blauen Linien der Rohrbahnverbindungen markiert war. Eine Linie, kaum zwei Zentimeter lang, führte von Periklon südöstlich zu einer Stadt namens Ossa. Eine zweite, längere Linie führte von Ossa nach Kernan an der Nordostecke des afrikanischen Kontinents. Jernigan drückte eine weitere Taste. Die Landkarte erlosch, an ihrer Stelle erschien die Aufschrift ESV 145.–. Jernigan zog einen Geldschein aus der Tasche und schob ihn in einen dafür vorgesehenen Schlitz. Der Automat begann zu summen. Zwei münzähnliche Metallgebilde klirrten in einen Auswurf. An einer anderen Stelle kam Wechselgeld zurück. Jernigan wiederholte die Prozedur und erhielt abermals zwei Metallmarken. Jeder der Marken enthielt einen Prägestempel. Einer lautete OSSA, der andere KERNAN.
Jernigan steckte das Wechselgeld ein.
»Wir sind ziemlich reich«, bemerkte er. »Der gesamte Fahrpreis beträgt kaum ein Fünfzigstel dessen, was ich aus der Kasse nahm.«
»Das besagt nichts«, gab Ken zu bedenken. »Rohrbahntarife könnten auf dieser Welt ungewöhnlich niedrig sein.«
»Oder die Geldstrafentarife ungewöhnlich hoch«, konterte Jernigan.
An einem Verkaufsautomaten erstand Jernigan zwei Umhänge. In einem Waschraum entledigten sie sich ihrer alten Überkleidung, die in ihrer Personalbeschreibung erscheinen würde, und legten die neuen Kleidungsstücke an. Ein Incinerator nahm die alten Umhänge auf. Ken hatte zum erstenmal Gelegenheit, sein neues Gesicht in einem Spiegel zu sehen. Er erschrak über die völlige Unähnlichkeit. Jernigan hatte recht. Jemand, der sich nur nach seinem Gesicht zu informieren suchte, hatte von vornherein verspielt.
Ken war als erster fertig und trat in die Halle hinaus. Sie war immer noch leer. In Periklon reiste man nicht viel. Ein rauschendes Geräusch drang aus einem der Kanäle, als in der Tiefe ein Rohrbahnzug vorbeischoß. Jernigan trat aus der Waschkabine. Er hatte die Verkleidung abgelegt, deren er sich auf Palamera bedient hatte, und sah wieder so aus, wie Ken ihn zum erstenmal gesehen hatte, als er sich im Institut vorstellte.
»Vorwärts!« sagte er. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Sie betraten den Kanal, der zur Ossa-Linie gehörte, und
Weitere Kostenlose Bücher