Die Diktatorin der Welt
keines Blickes würdigte. Für wenige Sekunden hatte Ken das irritierende Gefühl, er hätte ihn irgendwo schon einmal gesehen, aber als er das Foyer erreichte, war er sicher, daß er sich getäuscht hatte. Er trat auf die Straße hinaus und beobachtete eine halbe Stunde lang den Verkehr in der Straße, bevor er sich entspannt genug fühlte, um auf sein Zimmer zurückzukehren.
Der Abend kam, früh wie üblich infolge der kurzen, neunzehnstündigen Rotationsperiode dieser Welt. Ken wartete auf das Geräusch, das Jernigan üblicherweise verursachte, wenn er sein Zimmer betrat. Gegen achtzehn Uhr (Jernigan hatte ihm eine Armbanduhr mit dem hierzulande gängigen Zifferblatt gekauft) bestellte er Abendessen und Getränke. Der Robotkellner erschien zehn Minuten später. Ken begann zu essen. Er hatte den ersten Bissen kaum geschluckt, da öffnete sich die Tür.
Jernigan trat ins Zimmer. Hinter ihm schob sich eine kleine, verwachsene Gestalt durch die Öffnung. Ken sah einen alten Mann mit einem verschrumpelten, zerfurchten Gesicht, das so häßlich war, daß es fast schon wieder komisch wirkte. Er hatte einen Buckel, und als er sich umdrehte, um die Tür zu schließen, bewegte er den rechten Arm in einem Winkel, der für einen normal gewachsenen Arm völlig unmöglich gewesen wäre.
Er schien Kens Bestürzung zu fühlen, wandte sich ihm zu und krähte:
»Keine Angst, mein Sohn. Ich bin die Erlösung von dem Übel. Oder vielmehr – ihr beide und ich zusammen.«
Jernigan trat in die Mitte des Zimmers. Er machte eine Handbewegung in Richtung des Alten, der bei der Tür stehengeblieben war.
»Das«, sagte er ernst, »ist Waale Hills. Er wird uns zu einer Privataudienz bei Nenu verhelfen.«
12
Jernigans Behauptung, stellte sich heraus, war nicht wörtlich zu nehmen. Waale Hills hatte keinerlei Beziehungen zur Hauptbürgerin, und trotzdem war er für das bevorstehende Unternehmen von unschätzbarem Wert. Er war Hoflieferant. Jeden Abend schaffte er zu festgesetzter Zeit eine Lasterladung voll Brot und anderem Gebäck in den Lieferantenhof des Hauptpalasts. Er besaß eine besondere Lizenz, die ihm das Passieren der äußeren Palastwache gestattete, und er war bereit, sie Jernigan zur Verfügung zu stellen. Jernigan hatte Waale Hills in einer Schenke getroffen und ihn angesprochen, nachdem er Zeuge einer erhitzten Debatte zwischen Waale und einem politisch Andersgesinnten geworden war.
Der Plan, den sowohl Ken, als auch Jernigan für den einzig wirksamen hielten, obwohl sie sich niemals darüber unterhalten hatten, stand damit fest. Die beste Methode, Nenus Übergriffe in andere Universenserien zu unterbinden, war, Nenu aus dem Wege zu schaffen. Es stand nicht zu befürchten, daß ihr Nachfolger, wer immer es auch sein mochte, ihren Fußstapfen folgte. Der Persönlichkeitskult, den die politische Propaganda um Nenus Figur herum aufgebaut hatte, stand auf dem Höhepunkt. Der Staat war nicht mehr der Staat. Der Staat war die Hauptbürgerin. Die Wirkung, die Nenus Beseitigung auf die politische Entwicklung dieser Welt haben würde, mußte um ein Vielfaches größer sein als die Umschichtung des chinesischen Reiches, die der Tod des roten Diktators vor rund tausend Jahren ausgelöst hatte.
Um Nenu zu beseitigen, mußte man zunächst in ihre Nähe gelangen. Sie lebte in ihrem Palast am Nordrand der Stadt – oder vielmehr unterhalb des Palastes, in einer Serie von luxuriösen Gemächern, die bombensicher in zweihundert Metern Tiefe angelegt waren, wie Waale zuverlässig zu berichten wußte. Den Palast selbst umgaben mehr als eintausend Polizisten und Roboter, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten, die Hauptbürgerin notfalls mit ihrem Leib zu schützen. Außerdem gab es Horden von Sicherheitspolizisten im Innern des Palasts und in jeder der unterirdischen Etagen.
Waales Lizenz löste eines der schwierigsten Probleme. Mit Hilfe der Lizenz war es ein leichtes, die äußere Postenkette zu durchdringen. Einmal im Lieferantenhof, konnte es nicht allzu schwierig sein, sich von Waales Lieferfahrzeug zu entfernen und sich zu verbergen, bis sich eine Gelegenheit bot, weiter in verbotene Zonen vorzustoßen.
Jernigan hatte einen kleinen Zusatzplan. Es konnte ihnen nur behilflich sein, wenn es gelang, einen Teil der Palastwache vorübergehend von ihrer eigentlichen Aufgabe abzulenken und den Gesamtbetrag an Wachsamkeit, der den Palast schützte, auf diese Weise zu verringern.
Er ließ sich nicht darüber aus, was er im
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