Die Diktatorin der Welt
wie sich in allem, was geschieht, das wissende, umsichtige Walten unserer Hauptbürgerin ausdrückt.«
Er machte eine kurze Pause, um die Worte einwirken zu lassen. Dann begann sein Bild zu verblassen, und ein anderes trat an seine Stelle. Ken erblickte eine Landschaft, ein grünes Tal, das sich zwischen zwei flachen, unregelmäßigen Bergzügen erstreckte. Bebaute Felder zogen sich an den Berghängen entlang. Im Vordergrund war eine breite Autostraße im Bau. Weit hinten lag eine kleine Stadt.
»Das Invertal-Restitutionsprojekt«, erläuterte die Stimme. »Das Tal des Inver-Flusses, wie es heute aussieht, knapp ein halbes Jahr nach dem heimtückischen Überfall der Volksfeinde, die in sinnloser Vernichtungswut eine der fruchtbarsten Gegenden unserer Welt verwüsteten und Tausende unschuldiger Bürger töteten, bevor sie von unseren Streitkräften aufgehalten und bis auf den letzten Mann aufgerieben wurden. Die Einsatzbereitschaft unseres Bürgertums, gelenkt von dem unermüdlich planenden Verstand der Hauptbürgerin, brachte das Wunder zuwege, binnen eines halben Jahres aus Schutt und Ruinen wieder erstehen zu lassen, was die Hand eines barbarischen Feindes in sadistischer Grausamkeit vernichtet hatte. Unsere Hauptbürgerin ...«
Die Stimme brach plötzlich ab. Das Bild verschwamm und wurde durch ein anderes ersetzt. Es war dieselbe Landschaft, dasselbe Tal zwischen den flachen Bergzügen, aber die Erde war verbrannt. Verkohlte, entwurzelte Bäume streckten ihre kahlen, schwarzen Äste starr in die Luft, das Pflaster der Straße im Vordergrund war aufgerissen und zerfetzt, und die kleine Stadt bestand aus rauchenden Ruinen.
»Das«, sagte eine neue Stimme, »war das Inver-Tal vor einem halben Jahr. Vernichtet nicht durch die barbarische Grausamkeit eines Gegners, den es überhaupt nicht gibt, sondern durch die unglaubliche, verbrecherische Verantwortungslosigkeit einer machtlüsternen Frau, die man die Hauptbürgerin nennt und von der man uns weismachen will, sie sei die personifizierte Allwissenheit.«
Die Stimme schwieg. Über dem weiten Platz mit seinen Tausenden von Menschen lag eine Stille, wie sie dieser Ort nie zuvor erfahren hatte. Die Tausende standen starr, unfähig zu sprechen oder sich zu bewegen, wie eingefroren von der kalten, harten Stimme, die mit unbewegtem Tonfall die größte Lästerung aussprach, die diese Welt in den langen Jahren der Regierung der Hauptbürgerin zu hören bekommen hatte.
»Es gibt keinen Volksfeind«, fuhr die Stimme fort. »Der Volksfeind ist eine Erfindung der Hauptbürgerin, die sie benutzt, um uns von den wahren Fehlschlägen ihrer Politik abzulenken. Nehmt dieses Beispiel. Die Verwüstung des Inver-Tals war die Folge einer Wetterkatastrophe. Die Katastrophe war das Resultat einer Wetterkontrollstation, die von der Hauptbürgerin gegen den Rat der Sachverständigen an einer falschen Stelle installiert und zur falschen Zeit mit der falschen Leistungszufuhr aktiviert wurde. Das Ergebnis: Ein gigantisches Unwetter mit Sturmböen bis zu vierhundert Kilometern pro Stunde, Wolkengüsse, die innerhalb einer Stunde mehr als fünfzig Zentimeter Regen entluden, und elektrische Stürme von unglaublicher Wucht. Der Sachschaden belief sich auf mehr als zwei Milliarden Staatsverbindlichkeiten, und zweihunderttausend Menschen – nicht Tausende, wie uns glaubhaft gemacht werden soll – fanden den Tod.«
Jetzt geriet die Menge in Bewegung. Schreie gellten auf. Die Polizisten, die sich unter die Zuschauer gemischt hatten, wurden aktiv. Kleine Gruppen entrüsteter Bürger brachen sich durch das Gedränge Bahn und stürmten auf die Ringstraße zu. Von irgendwoher erschien ein hastig angefertigtes Banner mit der Aufschrift TOD DER LÜGNERIN.
Die wenigen Polizisten hatten von Anfang an keine Chance, den Aufruhr zu bändigen. Wo sie es versuchten, wurden sie umgerissen und niedergetrampelt, bevor sie ihre Waffen einsetzen konnten. Die Schreie der Entrüstung wurden häufiger, verbanden sich zu homogenem Gedröhn und erfüllten die Luft mit dem röhrenden, kaum mehr menschlichen Gebrüll unbeherrschter Wut. Die Menge schoß auf die Fußgängerunterführungen zu. Die Tunnel waren zu eng. Die Menge quoll über die Seiten hinweg und rannte über die offene Straße. Das Funkleitsystem reagierte zu langsam. Ein paar Fahrzeuge rasten in die Menge hinein, den Zorn der Bürger noch zu heftigerer Glut entfachend. Röhrend und brüllend ergoß sich der reißende Menschenstrom in die Straßen, die
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