Die Dirne vom Niederrhein
und die Grillen zirpend ihre Symphonie anstimmten, verkroch sie sich in Rosis Wagen. Erst in den frühen Morgenstunden folgte die Hurenmutter ihr, legte sich neben sie und fiel in einen tiefen Schlaf.
Die Beine fest an sich gezogen, presste Elisabeth die Decke vor ihr Gesicht. Niemand sollte ihr Wehklagen hören, keiner von der Schmach vergangener Erlebnisse erfahren. Sie wollte ruhig sein, in Stille trauern, doch es tat einfach zu sehr weh. Irgendwann, wenn Schweigen sich über die Nacht senkte, platzten die Gefühle ein ums andere Mal heraus. Das Gesicht Antonellas wollte nicht aus ihren Gedanken verschwinden. Der Name ihrer Schwester brannte sich wie flammende Insignien in ihren Verstand. Und immer wenn Elisabeth dachte, sie sei imstande, ihr Flehen um Vergebung zu beenden, überrollte sie eine weitere Welle der Trauer.
Eines Abends, als der Mond hoch am Firmament stand, hatte sie keine Tränen mehr und wagte einen vorsichtigen Blick aus dem Fenster. Draußen prasselte das Feuer und das Geschäft der Huren schien zu florieren. Mutter Rosi saß wie jeden Abend an einem kleinen Holztisch, von der Glut erleuchtet. Die Soldaten kamen zu ihr, erklärten ihr Anliegen, woraufhin sie ruhig nickte oder in schallendes Gelächter ausbrach.
Wenn das Geschäft besiegelt war, schritt Rosi zu einem der Mädchen, es folgte ein kurzes Gespräch und die Ausgewählte verschwand mit dem Soldaten in einem der Wagen. Etliche der Männer kamen fast peinlich berührt zu dem kleinen Tisch von Rosi, andere wiederum ließen großspurig ein Säckchen voll Geld auf das Holz fallen, fassten sich in den Schritt und lobten mit derben Worten ihre Potenz. Wieder und wieder beobachtete Elisabeth dieses nächtliche Ritual, das eine seltsame Anziehung auf sie ausübte. Einige Männer kamen bereits nach wenigen Minuten aus dem kurz zuvor noch wild schaukelnden Wagen heraus, andere ließen sich Zeit. Zumindest so lange, bis Rosi donnernd an die Tür klopfte und den jeweiligen Freier herauswarf. Zeit bedeutete hier Geld.
Elisabeths Gesicht wurde vom Mond angestrahlt, während sie beobachtete, wie die Mädchen Dutzende von Männern bedienten. Alle, bis auf eine. Nur ab und zu hob Bela ihren Kopf und lächelte schüchtern. Ihre Haare waren schwarz wie Ebenholz und schienen mit der Dunkelheit um sie herum zu verschmelzen. Während die anderen Frauen sich nur kurz an das Lagerfeuer setzen konnten, hatte sie noch keinen Mann begleitet. Ihr Name fiel ein ums andere Mal an Rosis Tisch, so meinte Elisabeth es zumindest zu vernehmen – dann folgten ein Fingerzeig des Soldaten auf Bela und ein Kopfschütteln von Rosi. Die Männer legten Münze um Münze auf das Holz und schoben sie mit einem Augenzwinkern Rosi zu. Sie erhöhten ihr Angebot mit jedem Holzscheit, der ins knisternde Feuer geworfen wurde, doch ihre Anstrengungen schienen vergebens. Jedes Mal lehnte Rosi ab und die Soldaten mussten sich mit einer der anderen Frauen begnügen.
Irgendwann hielt Elisabeth es nicht mehr aus. Das Feuer zog sie an wie das Licht die Motten. Es lag eine unheimliche Spannung über diesem kleinen Platz, der für diesen Moment der Mittelpunkt des Lagers war. Den Blick nicht von den Frauen nehmend, zog sich Elisabeth einen grünen Arbeitsrock über. Am Spiegel hielt sie inne. Für einen Wimpernschlag war sie wieder die alte Elisabeth. Sie schnappte sich eine Bürste und strich sich damit mehrmals durch das Haar. Rosi hatte recht behalten. Natürlich war der Glanz ihrer prachtvollen Locken noch nicht zurückgekehrt, doch was Bela mit ihren kräftigen Massagen ausrichtete, war erstaunlich. Sie rieb sich kräftig mit einem Tuch durch das Gesicht, um ein wenig Röte auf ihre Wangen zu zaubern. Schnell warf sie sich noch eine Decke über und machte die ersten, zaghaften Schritte auf die platt getretene Wiese. Die kühle Abendluft legte sich auf ihr Gesicht, und als Rosi sie entdeckte, erhellte sich die Miene der Frau. Sofort schritt sie auf Elisabeth zu.
»Ich habe schon gedacht, dass du den Wagen niemals mehr verlässt«, grinste sie und drückte das Mädchen an sich.
»Rosi, ich habe eine Frage.«
Mit großen Augen blickte die Frau sie an und stemmte die Hände in die Hüften. »Raus damit, Kindchen.«
Elisabeth zögerte einen Augenblick, aber diese Frage lag ihr seit Tagen auf der Seele.
»Du gibst mir ein Dach über dem Kopf, Nahrung, und ich werde von allen gut behandelt. Warum tust du das?«
Rosi schmunzelte. Es war dasselbe Lächeln wie bei ihrem ersten Treffen.
Weitere Kostenlose Bücher