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Die Dirne vom Niederrhein

Die Dirne vom Niederrhein

Titel: Die Dirne vom Niederrhein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Thiel
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in ihm hoch, als die Schritte von Schwester Agathe sich langsam in den langen Gängen verloren.
    »Du musst die Schwester entschuldigen«, sagte der Doktor, seufzte tief und ließ seine Sehhilfe in die Tasche gleiten. »Sie kann sich einfach nicht mit den Entscheidungen der Vergangenheit abfinden, scheint die Enttäuschung darüber nicht verwunden zu haben. Als unsere Brüder aus Kurköln dafür stimmten, dass dieses Kloster nicht von einer Oberin geführt wird, sondern sich vielmehr für unseren Vikar Nikolas Weisen als Vorsteher entschlossen, wurde sie verbittert.« Doktor Sylar führte Maximilian in den Krankenflügel. Die Stimme des Arztes war leise, als könnten die Wände mithören. Trotzdem war das Gesagte klar und von Mitgefühl durchzogen. »Sie vermutete eine Verschwörung, prangerte die guten Kontakte des Vikars nach Kurköln an. Dabei sind es genau diese, die uns die bescheidene Hilfsleistung aus der Kurie ermöglichen, dank der wir die Kranken und Schwachen versorgen können.« Er stöhnte auf und legte tief in seinen Überlegungen eine Hand auf seinen massigen Bauch. »Sie sieht in allem und jedem einen Feind, ist bei den Schwestern und Mägden bekannt für ihre Strenge und Korrektheit. Sie nennen sie bereits die ›eiserne Schwester‹.«
    Der Arzt zog einen rasselnden Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete die mit Eisen beschlagene Tür zur Krankenstube. Das metallische Geräusch hallte von den Wänden wider. Quietschend gab die Tür nach und Maximilian wich einen Schritt zurück. Ein bestialischer Gestank drang in seine Nase. Er musste sich zwingen, Doktor Sylar zu folgen. Sofort überkam ihn Übelkeit, der Geruch umhüllte seine Sinne, und er hatte das Gefühl, als müsse er sich übergeben.
    »Ich bin mir sicher«, fuhr der Arzt unbeirrt fort, »dass sie irgendwann mal daran zugrunde gehen wird. Gott möge ihrer Seele gnädig sein.«
    Diese Worte vernahm Maximilian beinahe nicht mehr. Seine Augen weiteten sich. Die weitläufigen Räume Krankenstube zu nennen, war stark untertrieben. Auf einem Dutzend Betten lagen Männer und Frauen, die dem Tode näher waren als dem Leben. Dicke Lederriemen waren um ihre Gelenke gebunden, sodass keine Bewegung mehr möglich war. Sie wanden sich in Fieberträumen oder starrten lethargisch an die Decke. An diversen Körperstellen waren dicke Verbände angelegt worden. Fast jeder von ihnen hatte Leinenstoff um den Kopf gebunden, der blutige Stellen an den Schläfen aufwies. Es war ein einziges Stöhnen und Seufzen. Und dazu dieser Gestank. Maximilian verzog das Gesicht.
    »Viele von ihnen sind gewalttätig, schlagen um sich, wenn man ihnen helfen möchte«, erklärte der Arzt. »Die Schwestern kommen dreimal täglich, um sie zu reinigen, jedoch fehlen uns die Mittel, sie angemessen zu versorgen. Es ist eine Schande, was der Krieg aus den Menschen macht.« Er führte Maximilian weiter zu einem kleinen Gang, von dem unzähligen Türen abgingen. »Und das sind leider noch nicht einmal unsere problematischsten Patienten, bei ihnen schlug die Behandlung wenigstens noch an.«
    Kein Wunder, dass dicke Augenringe das faltige Gesicht des Doktors zierten. Hinter jeder Tür war eine kleine Kammer, winziger als Maximilians Schlafgemach, in der jeweils ein besonders schwerer Fall, wie Doktor Sylar sie nannte, lag. Auch diese Patienten hatten die verschiedensten Verletzungen.
    »Wir versuchen, sie ruhigzustellen, damit sie schlafen können«, fuhr der Arzt fort. »Nur leider sind wir selbst am Ende unserer Kräfte. Es kommen so viele und wir sind wenige. Einige werden direkt vom Schlachtfeld hierher gebracht. Sie schreien und schlagen um sich, sodass eine Ruhetherapie das einzig Richtige für sie ist, damit sie sich und anderen nichts antun.«
    Erst jetzt fand Maximilian die Kraft, etwas zu sagen. »Einige von ihnen wirken ganz friedlich, als würden sie schlafen.«
    »Das sind die Glücklichen, bei denen meine Behandlung anschlägt. Viele haben den Verstand verloren, reden wirres Zeug und essen sogar Fäkalien. Ich versuche diesen armen Seelen einen würdigen Abschied von dieser Welt zu ermöglichen.«
    Gemeinsam schritten sie den Gang entlang zur letzten Tür.
    »Diese Patientin ist besonders gefährlich«, erklärte der Doktor und steckte den Schlüssel ins Türschloss, drehte ihn aber noch nicht. »Sie ist vom Wahnsinn befallen, wird versuchen, mit allen Mitteln deinen Geist zu vergiften. Die Frau ist seit ein paar Tagen hier und nur wir können ihr helfen, ihren Weg zum

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