Die Dornen der Rose (German Edition)
etwas zu verlieren, das man selbst erschaffen hat«, meinte er. »Man kann es nie wieder so machen, wie es einmal war.«
»Nicht ganz.«
»Ich musste einmal fortgehen und alles zurücklassen. Meine Bücher. Gedanken, die ich niedergeschrieben hatte. Abhandlungen.« Er bewegte sich zwar nicht, doch seine Regungslosigkeit hatte jetzt einen anderen Ausdruck. »Mein Vater hat alles verbrannt.«
Sie hatte keine Eile, das Schweigen zu brechen und LeBreton damit eventuell zuvorzukommen.
»Es war, als würde man Blut verlieren«, sagte er.
Aus welchem Hause auch immer er stammte, dort hatte er nicht unbedingt glückliche Tage verbracht. Vielleicht hatte er ja dort gelernt, in unzugänglichen Tiefen seines Innern zu versinken. Gelernt, die Welt so gründlich zu erforschen. Gelernt, so gut in die Seelen anderer Menschen zu blicken, dass er diejenige unter allen verlorenen Seelen um sich herum erkennen konnte, der es am schlechtesten ging. Kein besonders angenehmes Gefühl, mit einem Mann zu tun zu haben, der das Skalpell eines solch starken Wahrnehmungsvermögens führte.
Auf der anderen Seite lehrte er sie, wie sie ihren Feinden die Augäpfel herausreißen konnte. Sie dachte ein Weilchen über Guillaume LeBreton nach, ohne jedoch zu einem bestimmten Schluss zu kommen. »Nach Adrian übernehme ich die Wache«, erklärte sie schließlich.
»Das brauchen Sie nicht.«
»Wenn man von mir erwartet, dass ich meinen Feinden die Augen rausreiße, kann ich doch auch sicherlich ein paar Stunden durch die Dunkelheit wandern und nach ihnen Ausschau halten.«
Er setzte sich auf. Dabei kamen sie sich sehr nahe. Fast schon so nahe, dass sich ihre Körper berührten. Er nahm ihre Hand und schob seine Finger zwischen ihre. Sie fügten sich geschmeidig ineinander – Marguerite de Fleurignacs und Guillaume LeBretons Finger.
Sie hatte nicht gewusst, was sie erwartete, als sie sich so bewusst berührten. Das Beben, das sie erfasste, kam überraschend. Ihr Körper wusste nicht so recht, was er davon halten sollte.
»Ich wecke Sie vor Sonnenaufgang«, versprach er. »Sie können die letzte Wache übernehmen.« Er schaute ihre Hand an und hielt weiterhin ihre Finger mit den seinen verschränkt. »Im Allgemeinen weiß ich, was Frauen wollen, wenn sie mitten in der Nacht zu mir kommen. Diesmal aber nicht.«
»Ich weiß es selbst nicht so genau.«
In den Tagen des Ancien Régime pflegten die hohen Damen des Adels Männer wie diesen zu sich ins Bett zu nehmen, um sich mit einem Mann des Volkes zu amüsieren, der ungeniert, derb und stark war. Er war so eine Art Spielzeug. Sie hatte gesehen, wie Gärtner, Stallburschen und die Soldaten, die das Schloss von Versailles bewachten, von den Damen des Hofstaats in die Privatgemächer eingeladen wurden. Damals hatte sie es dekadent gefunden.
Doch heute Nacht fühlte es sich nicht dekadent an, Guillaume LeBreton zu begehren. Ihn auszuwählen.
»Danke, dass Sie Bertille und Alain und die Kinder gerettet haben«, sagte sie. »Und mich. Hätte ich Sie nicht bei mir gehabt, wäre ich schnurstracks allein ins Haus marschiert und verhaftet worden. Vielen Dank.«
»Keine Ursache. Und jetzt gehen Sie wieder rüber und legen sich hin. Versuchen Sie zu schlafen.« Doch er ließ sie nicht los. Und dieses Wissen stand zwischen ihnen – dass seine warme Hand sie weiterhin hielt, zart wie gegerbtes Ziegenleder, fest wie die Astknoten eines Baumes.
La Flèche wurde auf allen Straßen der Normandie gejagt. Morgen würden die Fänge des Todes über ihr schweben.
Doch das war morgen. Sie hatte noch diese Nacht. »Sie wissen, dass ich Marguerite de Fleurignac bin. Sie haben es immer gewusst.«
»Von der ersten Sekunde an«, bestätigte er gelassen.
»Das haben Sie aber nicht erwähnt.«
»Es erschien mir unhöflich, Ihnen zu widersprechen. Und Sie waren so scheu und misstrauisch. Hatten Angst vor mir.« Er hob ihre miteinander verschränkten Hände und führte ihre Knöchel dicht vor seinen Mund, sodass sie seinen Atem spüren konnte. »Und die haben Sie immer noch. Angst. Gehen Sie schlafen, Mistress Maggie. Es ist spät, und wir haben morgen einen weiten Weg vor uns.«
Der Griff ihrer Finger in seinen wurde fester. Sie konnte seine Narbe nicht sehen. In diesem silbrig fahlen Licht hätte er ein Gentleman sein können, ebenso gut wie ein Verbrecher, Spion oder Schmuggler – was auch immer er war. Ihr war es egal, was er war. Die Nacht steckte voller Möglichkeiten.
»Ich bin keine Jungfrau mehr«,
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