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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCoullough
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rechten Ermahnungen auf den Weg geschickt?«
    »Ja, Euer Exzellenz«, erwiderte Ralph de Bricassart und setzte sich auf den dritten Stuhl am Teetisch, der mit allerlei Leckerbissen beladen war: waffeldünne Gurken-Sandwiches, sogenannte Fairy-Cakes, rötlich und weiß gemustert, zudem geeist, gebutterte Teekuchen, Schälchen mit Marmelade und Schlagsahne. Das Teeservice war aus kostbarem Aynsley-Porzellan, ganz zart von Blattgold überhaucht. »Solche Vorkommnisse sind bedauerlich, mein lieber Erzbischof«, sagte der Besucher, »aber auch wir geweihten Priester unseres Lieben Herrn sind schwache, nur allzu menschliche Wesen. Ich finde in meinem Herzen tiefes Mitgefühl für ihn, und ich werde heute abend darum beten, daß er in Zukunft mehr Kraft besitzen möge.« Aus seiner sehr weich artikulierenden Stimme klang deutlich der ausländische Akzent. Er war Italiener: Erzbischof Vittorio Scarbanza di Contini-Verchese, Apostolischer Legat bei der katholischen Kirche Australiens.
    Er bildete das Bindeglied zwischen der klerikalen Hierarchie in Australien und dem Nervenzentrum im Vatikan, war somit also der wichtigste katholische Würdenträger in diesem Teil der Welt.
    Ursprünglich hatte er gehofft, in die Vereinigten Staaten von Amerika entsandt zu werden. Doch bei eingehender Überlegung kam er zu dem Schluß, daß Australien für ihn recht geeignet war. Wenn auch ein weit kleineres Land als die USA
    - zwar nicht an Ausdehnung, aber doch an Bevölkerungszahl - , so konnte es doch in viel stärkerem Maße als katholisch gelten. Anders als überall sonst in der englischsprechenden Welt, war es in Australien keineswegs ein Handikap, Katholik zu sein, nicht für den Geschäftsmann oder den Juristen, auch nicht für einen aufstrebenden Politiker. Und Australien war ein reiches Land, schon rein materiell für die Kirche von beträchtlichem Nutzen. Solange er sich hier befand, brauchte er wirklich nicht zu fürchten, von Rom vergessen zu werden. Jetzt betrachtete er, über den Rand seiner Tasse hinweg, unauffällig Ralph de Bricassart, der schon bald sein Sekretär werden sollte. Daß Erzbischof Cluny auf diesen Priester große, ja sehr große Stücke hielt, wußte man allgemein. Blieb die Frage: Würde er auch ihm, dem Apostolischen Legaten, wirklich gut gefallen? Sie waren alle so groß, diese Iren, viele überragten ihn um Haupteslänge, wenn nicht mehr, und als angenehm empfand er es wahrlich nicht, zu ihnen emporstarren zu müssen.
    Was Bricassart betraf: Sein persönliches Verhältnis zu Erzbischof Cluny war zweifellos ganz ausgezeichnet, das sah man auf den ersten Blick. Der jüngere Mann verhielt sich respektvoll, blieb dennoch unverkrampft, bewies eine heiterhumorvolle Art. Wie aber würde er sich unter einem anderen, so gänzlich verschiedenen Herrn bewähren? Normalerweise wäre ein Italiener Sekretär des Apostolischen Legaten geworden. In diesem Fall lag die Sache anders. Ralph de Bricassart war für den Vatikan von großem Interesse.
    Immerhin mußte es als sein Verdienst gelten, daß der Kirche ein riesiges Vermögen zugefallen war. Und auch er persönlich durfte durchaus wohlhabend genannt werden; seine Oberen besaßen nicht das Recht, ihm sein Privatvermögen abzufordern, und er seinerseits dachte offenbar nicht daran, es der Kirche zu überschreiben. Deshalb hatte der Vatikan beschlossen, daß der Apostolische Legat diesen Ralph de Bricassart als Sekretär in seinen Dienst nehmen sollte, um sich ein möglichst genaues Bild von ihm machen zu können - um ihm, wie man so sagte, ein wenig auf den Zahn zu fühlen.
    Eines Tages, wenn gewiß auch noch nicht in ganz naher Zukunft, würde der Heilige Vater die katholische Kirche Australiens belohnen, indem er einem der Ihren die Kardinalswürde verlieh. Die Altersgruppe, die dafür am ehesten in Frage kam, war jene, zu der auch Ralph de Bricassart gehörte, und gar kein Zweifel: Bricassart selbst war der führende Kandidat.
    Nun, mochte er also getrost die Chance bekommen, sich erst einmal auf seinem neuen Sekretärsposten zu beweisen, dachte Erzbischof di Contini-Verchese. Die Sache konnte womöglich recht interessant werden. Nur: Mußte er unbedingt so entsetzlich langwüchsig sein? Jetzt, am Teetisch, verhielt Ralph de Bricassart sich sehr still. Er aß nur ein kleines, dreieckiges Sandwich, verschmähte die anderen Leckerbissen, trank jedoch durstig vier Tassen Tee, ohne allerdings Zucker oder Milch hinzuzufügen. Nun, das entsprach genau dem, was im Bericht

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