Die Dornenvögel
unterschied sie, Meggie, sich in ihren Gefühlen wie auch sonstigen Symptomen überhaupt nicht von den Heldinnen, die dort vorkamen.
Allerdings schien es alles andere als fair, daß zwischen ihr und dem, was sie sich von Ralph ersehnte, eine so künstliche Barriere wie sein Priestertum stand. Sie wollte mit ihm leben, wie Daddy mit Mum lebte: in Harmonie mit ihm und in Bewunderung und Verehrung durch ihn. Im übrigen schien es Meggie, daß Mum nie sehr viel dafür getan hatte, daß Daddy sie liebte und verehrte. Dennoch tat er es. Nun, Ralph würde jedenfalls sehr bald erkennen, daß es für ihn viel schöner war, mit ihr zusammenzuleben, als weiterhin so ganz für sich. Daß sein Priestertum nichts war, was er so einfach ablegen konnte wie ein x-beliebiges Amt, eine x-beliebige Würde, daß es sich um etwas handelte, das ihn zutiefst band, begriff sie nicht, konnte sie wohl auch nicht begreifen. Gewiß, sie wußte, daß ein Priester weder Ehemann noch Liebhaber sein durfte. Doch diese Klippe umging sie, indem sie Ralph in ihren Gedanken seines geistlichen Amtes entkleidete. Über den Sinn und das Wesen priesterlicher Gelübde hatte sie nie etwas Genaueres erfahren, und da für sie persönlich die Religion kein Bedürfnis war, sann sie nicht weiter darüber nach. Gebeten konnte sie nichts abgewinnen, und wenn sie den Geboten der Kirche gehorchte, so einfach deshalb, weil die Nichtbefolgung ewiges Höllenfeuer bedeutete.
In dem Tagtraum, den sie gerade träumte, genoß sie tief das Zusammenleben mit Ralph, und sie schlief auch mit ihm, so wie Mum und Dad beieinander schliefen. Der Gedanke an seine Nähe ließ sie unruhig auf ihrem Sattel rutschen, und das Gefühl der Zärtlichkeit fand seinen Ausdruck in einer wahren Flut von Küssen, von erträumten, in der Phantasie sehr intensiv durchlebten Küssen, denn Küsse waren für sie der einzig vorstellbare Ausdruck für dieses so eigentümlich starke Bedürfnis nach Zärtlichkeit. Was die sogenannte »geschlechtliche Aufklärung« betraf, hatte auch die Arbeit auf den Koppeln sie keinen Schritt vorangebracht. Der Geruch der Hunde genügte völlig, um bei den Schafen diesen Trieb praktisch völlig lahmzulegen, solange sie ihre gefürchteten Bewacher auch nur von fern witterten. Zur Paarungszeit wurden die Schafböcke mit den weiblichen Schafen sehr methodisch auf einer ganz bestimmten Koppel zusammengebracht, und Paddy sorgte stets dafür, daß seine Tochter dann »anderweitig« beschäftigt war. Und wenn ein Hund einen anderen besprang, so war das für Meggie eben ein Springen und Herumtollen, das bei ihr als Reaktion sofort ein Knallen der Peitsche auslöste, damit die Hunde wachsam bei ihrer Arbeit blieben, statt sich durch »Spielereien« ablenken zu lassen. Schwer zu sagen, was einem Menschen schlimmer zusetzen kann: ein unerklärliches und ungeklärtes Verlangen mit all jener Rastlosigkeit und Gereiztheit, von der es begleitet wird; oder eine bewußte Begierde, die zielstrebig auf Befriedigung und Erfüllung drängt. Das Verlangen in Meggie war vorhanden, zweifellos, doch wußte sie nicht, wonach genau. Sie spürte nur, daß die Sehnsucht sie unausweichlich in die Richtung von Ralph de Bricassart zog. Und so träumte sie von ihm, hungerte und dürstete gleichsam nach ihm und empfand tiefe Niedergeschlagenheit, weil sie - obwohl er ihr doch versichert hatte, daß er sie liebe - ihm so wenig bedeutete, daß er sie nie besuchen kam. Während sie noch grübelte, tauchte hinter ihr Paddy auf, der auf seinem alten Rotschimmel gleichfalls der Homestead entgegenstrebte. Meggie zügelte ihre Stute und wartete auf ihren Vater. »Was für eine nette Überraschung«, sagte er. »Schön, daß wir uns treffen.«
»Ja, Dad. Weiter draußen ist es wohl sehr trocken, nicht?« »Jedenfalls noch etwas mehr als hier. Guter Gott, noch nie habe ich so viele Känguruhs gesehen! Draußen nach Milparinka zu muß es ja knochentrocken sein. Martin King hat zwar davon gesprochen, daß eine große Anzahl Tiere abgeschossen werden sollen, aber bei diesen Riesenmassen würde es wohl kaum einen Unterschied machen, wenn man mit einer ganzen Batterie von Maschinengewehren dazwischenhält.«
Es geschah sehr selten, daß Meggie mit ihrem Vater ganz allein war, denn für gewöhnlich hatte er wenigstens einen der Jungen bei sich. Stets zeigte er sich liebe- und rücksichtsvoll. Bevor sie sich recht besann, stellte sie jene Frage, die sie so bedrückte und quälte: »Daddy, warum kommt Pater de
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