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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCoullough
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nächsten Zug zu eilen, der nach Gilly und Drogheda fuhr. Immer und immer wieder hatte er sich gesagt, er sei nichts weiter als ein Opfer der Einsamkeit, ihm fehle nur die warme, herzliche Zuneigung, die ihm auf Drogheda entgegengebracht worden war. Er versuchte sich weiszumachen, daß sich nichts geändert hatte, als er einer augenblicklichen Schwäche erlag und Meggies Kuß erwiderte. Er glaubte, sich selbst versichern zu können, daß seine Liebe zu Meggie sich nach wie vor auf das Reich einer Phantasie beschränkte, die zwar voller Entzücken war, gleichzeitig jedoch auch wie purifiziert und abstrahiert, und daß seine Gefühle für Meggie keinesfalls übergeglitten waren in eine andere Welt, die nicht mehr einen bewußt beschränkten Ausschnitt darstellte, sondern ein beunruhigendes und verstörendes Ganzes, das in seinen früheren Träumen einfach nicht dagewesen war. Doch er konnte sich nicht eingestehen, daß sich etwas geändert hatte, und so behielt er Meggie in seiner Vorstellung als kleines Mädchen und schirmte dieses Bild - diese Vision, wenn man so wollte - sorgsam ab gegen alles, was das Gegenteil bezeugen mochte.
    Der Schmerz aber, der Schmerz ließ nicht nach. Vielmehr schien es damit schlimmer zu werden. Zuvor war seine Einsamkeit gewissermaßen eine unpersönliche Angelegenheit gewesen. Nie hatte er sagen können, daß da Abhilfe geschaffen werden konnte, weil es in seinem Leben diesen oder jenen Menschen gab oder geben mochte. Jetzt jedoch hatte seine Einsamkeit einen Namen: Meggie, Meggie, Meggie, Meggie ...
    Er schrak auf aus seinen Grübeleien und entdeckte, daß der Blick des Erzbischofs di Contini-Verchese sehr direkt und zweifellos scharf beobachtend auf ihm lag. Ohne Frage besaßen diese großen, dunklen Augen in weit gefährlicherem Maße die Fähigkeit, in das Objekt ihrer Beobachtung einzudringen, es gleichsam auszuforschen, als die so munteren und lebhaften Augen des Erzbischofs Cluny Dark.
    Ralph de Bricassart erwiderte den Blick seines zukünftigen Herrn mit einem Blick von gleicher Klarheit und Direktheit und ließ dann ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht gleiten. Viel zu intelligent, um abzuleugnen, daß er gerade dunklen Gedanken nachgehangen hatte, zuckte er mit den Achseln, als wollte er sagen: In jedem Menschen steckt ein Stück Traurigkeit, und es ist ja keine Sünde, sich an einen Kummer zu erinnern.
    »Sagen Sie doch«, fragte der italienische Erzbischof, »inwieweit hat sich eigentlich der vor kurzem eingetretene wirtschaftliche Rückgang auf das von Ihnen verwaltete Vermögen ausgewirkt?« Die Frage klang so natürlich, als habe ihn in den letzten Minuten ausschließlich dies beschäftigt.
    »Bislang brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, Euer Exzellenz«, lautete die Antwort. »Michar Limited ist den Fluktuationen des Marktes in relativ geringem Maße ausgesetzt. Das verdanken wir der Tatsache, daß Mrs. Carson mit ganz besonderer Umsicht investiert hat. Die Station Drogheda allerdings wird nicht ganz so glimpflich davonkommen; der Wollpreis fällt. Mrs. Carson war jedoch zu klug, um ihr Geld im landwirtschaftlichen Bereich anzulegen. Sie gab der Metallgewinnung entschieden den Vorzug. Allerdings glaube ich, daß dies eine ganz ausgezeichnete Zeit ist, Land zu kaufen, nicht nur Viehstationen irgendwo weit draußen, sondern auch Grundstücke mit Häusern und Gebäuden in den wichtigsten Städten. Die Preise sind lächerlich niedrig, werden jedoch nicht ewig auf ihrem jetzigen Stand bleiben. Immobilien bieten sich als Anlage im Augenblick gleichsam von selbst an. Ich wüßte wirklich nicht, wie wir, wenn wir jetzt kaufen, in den kommenden Jahren daran verlieren sollten. Eines Tages ist die Depression mit Sicherheit vorüber.« »Richtig«, sagte Erzbischof di Contini-
    Verchese. Ralph de Bricassart, so schien es, hatte offenbar nicht nur das Zeug zu einem Diplomaten, sondern auch eine beachtliche kaufmännische Begabung! Und so war es in der Tat überaus ratsam, daß Rom ihn sorgsam im Auge behielt.
     
     
    9
     
     
     
    Aber es war 1930, und auf Drogheda wußte man, was es mit der Depression auf sich hatte. In ganz Australien herrschte Arbeitslosigkeit. Es schien so sinnlos, irgendwo nach einem Job zu suchen, daß viele es gar nicht mehr versuchten. Und da das Geld für die Miete in irgendwelchen Wohnhäusern kaum noch aufzubringen war, wohnten die Frauen und Kinder in primitiven Hütten auf Kommunalgelände und reihten sich ein in die langen Schlangen der

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