Die Dornenvögel
getönt, und Muscheln von den Ausmaßen größerer Steine hatten geriffelte Ränder, und wenn man wie durch fedrig zerfaserte Lippen tiefer in sie hineinblickte, so wurde man Augenzeuge eines eigentümlich ruhelosen und bunten Geschehens. Keiner der vier im Boot wäre auch nur im mindesten überrascht gewesen, hier plötzlich eine Meerjungfrau zu sehen: mit prallen, glänzenden Brüsten, glitzerndem Schuppenleib, üppig wallendem Haar und jenem verführerischen Lächeln, das Seeleute so unwiderstehlich in seinen Bann zu ziehen vermochte. Und die Fische, die unendlich vielen Fische! Wie lebende Juwelen huschten sie zu Tausenden und aber Tausenden hin und her. in mannigfachen Formen und Farben - diese hier rund wie chinesische Lampions, jene dort schlank wie Pfeile, golden und scharlachrot die einen, von silbrig-kühlem Blau die anderen, Krötenfische und Nadelfische und Barracudas und sogenannte Gropers, die riesen-mäulig in Grotten zu lauern schienen, und schlanke graue Nurse-Haie, die tief unter dem Boot unaufhörlich hin und her jagten. »Aber keine Sorge«, sagte Rob. »Für Seewespen sind wir hier zu weit südlich, und wenn es hier auf dem Riff irgend etwas gibt, das Sie umbringen könnte, so am ehesten noch der Steinfisch, und daher meine Warnung - gehen Sie nie ohne Schuhe hinaus auf die Korallen.« Meggie war froh, die Fahrt mitgemacht zu haben. Andererseits verlangte es sie nicht danach, die Fahrt ein zweites Mal zu machen oder sich mit dem Pärchen anzufreunden. Sie badete in der Lagune, sie ging spazieren, sie lag in der Sonne. Merkwürdigerweise vermißte sie nicht einmal Bücher zum Lesen, denn stets schien da etwas Interessantes zum Beobachten zu sein.
Sie befolgte Rob Walters Ratschlag und »hüpfte ohne einen Faden auf dem Leib herum«. Zunächst verhielt sie sich dabei wie ein Kaninchen, das beim leisesten Knacken eines Zweiges in Deckung springt. Aber nach einigen Tagen gewann sie dann doch die Überzeugung, daß weit und breit wirklich niemand war. Und so hörte sie endlich auf, sich zu genieren, denn es gab ganz einfach niemanden, vor dem sie sich hätte schämen müssen. Sie fühlte sich wie ein Tier, das nach langer Gefangenschaft endlich freigelassen worden war und sich nun auf sich selbst gestellt fand in einer Welt, die voller Sanftmut und Sonne, voller Weiträumigkeit und Willkommen war. Was ihre Sinne jetzt entdeckten, da sie fern von ihrer Mutter und ihren Brüdern, fern von Luke und auch von Ralph war, das schien etwas zu sein, das sich nur mit dem Begriff reiner Muße umschreiben ließ. Zum ersten Mal in ihrem Leben unterlag sie nicht dem Zwang, sich irgendeiner Form von Arbeitsordnung unterwerfen zu müssen. Zu ihrer Überraschung entdeckte sie, daß ausgiebige körperliche Aktivität offenbar so etwas wie die wirksamste Sperre für geistige Aktivität war.
Vor Jahren hatte Pater Ralph sie einmal gefragt, woran sie denn so denke, und sie hatte erwidert: an Daddy und Mum, an Bob, Jack, Hughie, Stu, an die kleinen Zwillinge, an Frank, Drogheda, das Haus, die Arbeit, die Dürre. Sie hatte nicht gesagt: an ihn, aber er stand auf ihrer Liste immer ganz oben. Später waren dann noch hinzugekommen: Luke und Anne und Luddie und Justine, das Zuckerrohr und das Heimweh und der Regen. Und natürlich gab es immer irgendwelche Bücher, die ihr die so lebensnotwendige Atempause verschafften. Doch all ihre Gedanken waren stets mehr oder minder zufällig ausgelöst worden und hatten sich dann ebenso zufällig aneinandergereiht zu wirren Zufallsgebilden, zu bunt durcheinandergemengten, ordnungslosen Gedankenhaufen oder wohl eher: Knoten und Klumpen.
Es fehlte ihr ganz einfach an der Übung, sich hinzusetzen und in aller Ruhe und einigermaßen systematisch über eine wichtige Frage nachzudenken. Über diese zum Beispiel: Wer war Meggie Cleary, Meggie O’Neill? Wer war sie eigentlich? Was wollte sie, was wünschte sie sich vom Leben? Was war für sie der Sinn des Lebens? Ja, es fehlte ihr an Übung, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, doch sie mußte es wenigstens versuchen. Hier bot sich ihr endlich einmal die Zeit und die Gelegenheit dazu. Lang im Sand ausgestreckt, konnte sie sich voll darauf konzentrieren. Doch wo beginnen? Nun, da war Ralph. Bitterkeit stieg in ihr auf. Nein, verlockend schien es wirklich nicht, mit den Überlegungen an diesem Punkt anzusetzen, doch in gewisser Weise war Ralph wie Gott: Bei ihm nahm alles seinen Anfang und sein Ende. Seit jenem Tag, da er sich im Staub des
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