Die Dornenvögel
Bahnhofsplatzes in Gilly zu ihr gebeugt und ihre Hände in seine Hände genommen hatte, war Ralph dagewesen in ihrem Leben, und selbst wenn sie ihn bis zu ihrem Tod nicht wiedersehen sollte, würde gewiß noch ihr letzter Gedanke ihm gelten. Erschreckend eigentlich, daß ein einzelner Mensch eine solche allumfassende Bedeutung annehmen konnte.
Was hatte sie doch zu Anne gesagt? Daß ihre Wünsche und Bedürfnisse absolut nicht außergewöhnlich waren - Ehemann, Kinder, ein eigenes Heim, jemand, der sie liebte. Das schien doch nicht zuviel verlangt, schließlich konnten die meisten Frauen von sich behaupten, zumindest dies zu haben. Andererseits: Wie viele der Frauen, die einen Mann und Kinder und ein eigenes Heim hatten, waren wohl wirklich zufrieden? Nun, sie würde ganz bestimmt zufrieden sein, schon weil es für sie so schwer war, sich wenigstens diese Wünsche zu verwirklichen.
Nimm es hin, Meggie Cleary, Meggie O’Neill! Eigentlich willst du Ralph de Bricassart, doch ihn kannst du nicht haben. Und für dich scheint dadurch die Möglichkeit zu einer inneren Bindung an einen anderen Mann ein für allemal zunichte gemacht. Nun gut. Dann akzeptiere den Gedanken, daß es nie einen anderen Mann geben wird, den du liebst. Also wird deine Liebe ganz deinen Kindern gelten müssen, also werden es ganz und gar deine Kinder sein, von denen du Liebe empfängst: deine Kinder, und das heißt natürlich, die Kinder, die du von Luke haben wirst.
Oh, lieber Gott, lieber Gott! Nein, nicht lieber Gott! Was hat Gott je für mich getan, außer daß er mir Ralph weggenommen hat? Wir sind nicht sehr gut aufeinander zu sprechen, Gott und ich. Und weißt du was, Gott? Ich habe nicht mehr soviel Angst vor dir wie früher. Wie sehr habe ich doch dich und deine Strafen gefürchtet! Mein Leben lang bin ich den schmalen und geraden Tugendpfad entlanggetrottet, aus Angst vor dir. Und was hat es mir eingebracht? Nicht mehr, als wenn ich wieder und wieder gegen sämtliche Gebote verstoßen hätte. Du bist ein Betrüger, Gott, ein Dämon der Furcht. Du behandelst uns wie Kinder, die man sich mit der Androhung von Strafen gefügig macht. Aber ich habe keine Angst mehr vor dir, und nicht Ralph sollte ich hassen, sondern dich. Denn es ist deine Schuld, ganz und gar deine: Er lebt so in Furcht vor dir, wie ich immer in Furcht vor dir gelebt habe. Daß er dich zu lieben vermag, ist etwas, das ich nicht begreifen kann. Denn was an dir wäre schon liebenswert!? Wie kann ich nur aufhören, diesen Mann zu lieben, der Gott liebt? Sosehr ich es auch versuche, es scheint mir unmöglich zu sein. Er ist der Mond, und ich verzehre mich nach ihm und heule mir die Augen aus dem Kopf. Aber weißt du was, Meggie O’Neill? Hör auf, dir die Augen aus dem Kopf zu heulen, weiter ist gar nichts dabei. Du wirst dich mit Luke und Lukes Kindern bescheiden müssen. Jedes Mittel muß dir recht sein, um ihn von seinem verfluchten Zuckerrohr loszubekommen, damit du mit ihm zusammenleben kannst im eigenen Heim, und sei es auch bei Kynuna, wo es weit und breit kaum einen Baum geben soll.
Gut, Meggie O’Neill, und wie weiter? Nun, du wirst dem Bankmanager in Gilly mitteilen, daß die Summe, die alljährlich überwiesen wird, in Zukunft wieder auf dein Konto kommt. Und mit diesem Geld wirst du es dir richtig schön einrichten, das eigene Heim, das Luke dir so lange vorenthalten hat. Und dieses Geld wird dir auch helfen, deinen Kindern eine gute Erziehung zu geben und sie vor Not zu schützen.
Und mehr ist darüber gar nicht zu sagen, Meggie O’Neill. Ich bin Meggie O’Neill, nicht Meggie de Bricassart. Klingt sogar irgendwie albern: Meggie de Bricassart. Ich müßte mich Meghann de Bricassart nennen, und Meghann habe ich seit jeher gehaßt. Oh, werde ich wohl je aufhören zu bedauern, daß es nicht Ralphs Kinder sind? Das ist die Frage, nicht wahr? Sage es dir vor, wieder und wieder: Es ist dein eigenes Leben,
Meggie O’Neill, und du wirst es nicht verschleudern, indem du von einem Mann und von Kindern träumst, die du niemals haben kannst.
Ja! So ist es recht! Es hat keinen Sinn, an Vergangenes zu denken, an das, was begraben werden muß. Auf die Zukunft kommt es an, und die Zukunft gehört Luke und Lukes Kindern. Ralph de Bricassart gehört sie nicht. Er ist Vergangenheit.
Meggie wälzte sich herum. Ein- oder zweimal drehte sie sich im Sand um die Längsachse ihres Körpers, und dann lag sie ganz still und weinte, wie sie nicht mehr geweint hatte, seit sie drei
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