Die Drachen Der Tinkerfarm
und er flitzte hindurch in einen Flur und schloss sie hinter sich, so leise er konnte. Den Flur säumten weitere alte Fotos, Kinder in fremdartigen festlichen Trachten, die an Halloweenkostüme erinnerten, phantastische Kombinationen von Schals, Turbanen und langen Mänteln. Er lehnte sich zwischen zwei Bildern an die Wand und versuchte, absolut still zu sein.
Als ein paar Minuten verstrichen waren, ohne dass er ein Geräusch gehört hätte oder die Tür zwischen ihm und der Bibliothek aufgegangen wäre, normalisierte sich sein Atem ein wenig. Er wischte sich gerade den Schweiß von der Stirn, als neben seinem Ohr eine leise Stimme ertönte.
»Ich glaube, es ist weg.«
Tyler kreischte auf und machte einen Satz. Er blickte nach links und rechts, doch im ganzen Flur war nichts und niemand zu sehen.
»Ich bin hier«, sagte die Stimme, eine alte, zittrige Frauenstimme, aber ruhig und kultiviert, wie man sie manchmal im Fernsehen hörte. »Dreh dich um.«
Tyler gehorchte, obwohl er vor Herzklopfen fast ohnmächtig geworden wäre. Er sah eine Bewegung und trat einen Schritt näher an die Wand. Eines der beiden Rechtecke, zwischen denen er gestanden hatte, war gar kein Foto wie die anderen, sondern eine Art Gitterfenster in der Wand. Dahinter, schwer zu sehen in dem trüben Licht, meinte er das Gesicht einer Frau mit weißen Haaren zu erkennen.
»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte sie. »Wer bist du? Warum läufst du herum, wenn das Banderschnapp Jagd macht?«
»Banderschnapp?« Der Name kam ihm irgendwie bekannt vor.
»So nenne ich es bloß. Wie in dem alten Märchen … oder ist es ein Kindergedicht?« Sie lachte zaghaft, ein wenig, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf. »Ich … ich kann mich nicht mehr an alles erinnern. Ehrlich gesagt erinnere ich mich an so gut wie gar nichts.«
Da kam ihm eine Idee, mit wem er sich da unterhielt. »Grace? Sind Sie Grace?«
Sie schien ihn nicht zu hören. »Du solltest dich wirklich irgendwo verstecken. Ich kann nichts für dich tun. Ich habe selbst zu viel Angst vor dem Ding. Es ist schon seit … seit Jahren hinter mir her.«
»Wer sind Sie?« Tyler beugte sich vor, um ihr Gesicht besser erkennen zu können, doch sie scheute vor seiner jähen Bewegung zurück. Er durfte sie auf gar keinen Fall verschrecken! »Gehen Sie nicht weg! Wer sind Sie? Wie kann ich zu Ihnen kommen?«
»Das geht nicht. Wenigstens weiß ich nicht, wie. Ich kenne mich im Moment auch nicht so richtig aus.« Sie sagte das bedauernd, aber nicht deprimiert, eher so, als ob ihr das ziemlich häufig passieren würde.
»Heißt das, Sie können auch nicht zu mir herüber?«
»Nein.« Er meinte, sie den Kopf schütteln zu sehen. »Aber du musst ein Versteck finden, wo du sicher bist. Das Banderschnapp kann dich … nun, es kann dich finden. Und es kann sehr leise sein. Es hält sich mit Vorliebe im Schatten auf. Halte dich ans Licht. Oben in der Bibliothek gibt es eine Stelle, wo es kaum je hinkommt. Zu hell.« Sie zog sich von dem Gitter zurück. »Sei vorsichtig. Wie heißt es in dem Gedicht? ›Den Zappzappvogel flieh … und auch … das fürmsche Banderschnapp!‹ So ungefähr.«
»Warten Sie! Sind Sie Grace?«
Das schon halb im Finstern verschwundene Gesicht hielt inne. »Grace?«
»Heißen Sie so? Bist … bist du Tante Grace? Onkel Gideons Frau? Ich bin sein Großneffe, Tyler.«
»Grace.« Sie hörte sich an, als träumte sie. »Der Name klingt … bekannt. Gideon? Gideon. Ich erinnere mich … Ich meine mich zu erinnern.« Einen Moment lang war sie gar nicht mehr durch das Fenster zu sehen, dann erschien ihr Gesicht wieder, und ihre Finger schoben etwas Glänzendes durch das Gitter. »Nimm das. Gib es … Nein, Gideon, er hat es mir gegeben …« Es glitt ihr aus der Hand und klirrte zu Boden, wo es wie eine winzige schimmernde Schlange liegenblieb.
Als Tyler sich mit dem goldenen Medaillon an der Kette wieder aufrichtete, war sie fort.
Er hatte eigentlich um keinen Preis in die Bibliothek zurückkehren wollen, aber er musste Steve finden. Der einzige andere Ort, wo er nach ihm suchen konnte, war der Keller, und Tyler wusste, dass es ziemlich hart kommen musste, bevor er sich zu diesem Gang durchringen würde.
Grace – wenn sie denn die Frau hinter dem Gitter gewesen war – hatte ihm geraten, sich ins Obergeschoss der Bibliothek zu begeben, weil er dort, wo es am hellsten war, in Sicherheit sei. Er eilte so rasch er konnte durch die untere Bibliotheksetage, bis
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