Die Drachen Der Tinkerfarm
bezahlen.« Er lachte abermals, doch es klang beinahe zornig. Danach fing er an, große Krampen in den Pfosten zu hämmern, und es war zu laut, um weitere Fragen zu stellen.
So viele Arbeiten! Die ganzen normalen Tiere füttern, sie verarzten, ihre Käfige und Gehege und Becken reparieren wie auch Gemüsegarten, Haus und Küche der Farm besorgen. Ganz zu schweigen von den vielen Fabeltieren: Nicht nur Einhörner und Drachen gab es, sondern auch nervöse, fauchende Wampuskatzen, Ringschlangen und sogar einen sogenannten Hodag, ein bissiges Biest, das wie ein Dachs mit Krokodilshaut aussah und nach altem Käse roch. Lucinda konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie Onkel Gideon mit nur einem guten Dutzend Leuten einen solchen Riesenbetrieb am Laufen hielt, auch wenn zum Beispiel Walkwell den Eindruck machte, nie richtig mit der Arbeit aufzuhören. Zweimal war sie mitten in der Nacht aufgewacht und über den Flur auf die Toilette gegangen, und beide Male hatte sie ihn durchs Fenster dabei erspäht, wie er auf seinem Wagen zum Krankenstall hinüberfuhr oder im Mondschein Futtersäcke schleppte. Brauchte er denn gar keinen Schlaf? Und wie konnte jemand, der offensichtlich verkrüppelt oder wenigstens in seiner Beweglichkeit stark eingeschränkt war, so schwer arbeiten? Sie hatte keine Ahnung, was mit seinen Beinen los war – sie hatte Ragnar gefragt, aber der hatte nur abgewinkt und gesagt: »Simos hat seine eigenen Geschichten. Die zu erzählen steht mir nicht zu.«
Über manche Sachen sprach Ragnar jedoch. Er erzählte ihr bereitwillig von den Carrillo-Kindern, die sie im Lokal kennengelernt hatten.
»Sie kommen von der Nachbarfarm«, sagte er. »Die Familie besitzt das Land dort seit sehr langer Zeit. Der Urgroßvater dieser Kinder lieh Octavio Tinker Arbeiter für Reparaturen am Farmhaus aus und half ihm, Leute für einige der anderen Arbeiten zu finden. Mich und die übrigen hat Gideon nämlich erst später hergeholt. Das heißt, die Familie Carrillo kennt dieGeheimnisse eures Onkels nicht, aber er mag sie und vertraut ihnen. Manchmal fährt er sogar zu den christlichen und amerikanischen heiligen Tagen zu ihnen hinüber.«
Lucinda wusste nicht so recht, was sie sich unter amerikanischen heiligen Tagen vorstellen sollte, aber sie begriff, dass die Carrillo-Kinder nicht als Feinde der Farm betrachtet wurden und es von daher etwas verständlicher war, wenn Walkwell Sachen für sie schnitzte. Dennoch war das etwas, das sie einem solchen eigenartigen, knurrigen Mann niemals zugetraut hätte.
Lucinda und Tyler gewöhnten sich bald an den Tagesablauf. Montags, mittwochs und freitags schlossen sie sich am Morgen Ragnar zu Reparaturen und anderen kleineren Arbeiten auf dem Gelände an, am Nachmittag halfen sie dann bei den häuslichen Verrichtungen. Lucinda machte Botengänge, half Pema mit der Bettwäsche und anderen Sachen oder Sarah und Azinza beim Verstauen von Vorräten in der Speisekammer. Azinza sah aus wie das reinste Supermodel, und Lucinda kam sich ihr gegenüber wie ein Zwerg vor. Die Afrikanerin war über eins achtzig groß, hatte kurzgeschorene Haare und ein Profil wie die edelste Skulptur, die Lucinda je gesehen hatte. Ihre Haut war so dunkel, dass sie fast einen bläulichen Schimmer hatte: Neben der umwerfenden Azinza wirkte sogar Mrs. Needle richtig gewöhnlich.
Tyler wurde meistens dem alten Caesar zugeteilt, wenn der auf seinen Inspektionsrunden Glühbirnen und kaputte Kleiderhaken ersetzte und Nägel wieder einschlug, die sich im Lauf der Zeit aus der alten Täfelung des Hauses gelöst hatten.
»Caesar singt viel«, erzählte Tyler Lucinda eines Abends, als sie zum Essen hinuntergingen. »Und er kann dir alles erzählen, was du übers Silberputzen wissen willst, das ist sicher. Aber wenn ich ihn frage, wie es ihn auf die Farm verschlagenhat, sagt er bloß: ›Vorher ist es mir schlechter gegangen, das weiß der liebe Herrgott‹, und mehr lässt er nicht raus. Warum sagt uns keiner von denen irgendwas? Hat Onkel Gideon die Leute, die hier arbeiten, auch geklont? Ist das das große Geheimnis?«
Wenn Außenarbeiten anstanden, fuhren sie gewöhnlich mit Ragnar los oder mit Walkwell, falls der einmal Zeit hatte. Manchmal kam auch Haneb mit. Lucinda versuchte sich noch einmal bei ihm dafür zu bedanken, dass er sie davor bewahrt hatte, von dem Einhorn verletzt zu werden, aber der schmächtige Mann war so schüchtern, dass selbst ihre Dankbarkeit ihm peinlich zu sein schien. Sie und Tyler halfen
Weitere Kostenlose Bücher