Die Drachen von Montesecco
hatte sich auf dem Dach in den Liegestuhl gesetzt, in dem Benito gestorben war, er hatte die Wolken über sich ziehen sehen, den Wind auf seiner Haut gespürt und vor sich hin genickt. Er wußte nicht, wie es getan worden war noch warum, noch von wem, doch er war nun sicher, daß Benito ermordet worden war. Es mußte einen Schuldigen geben, irgendeiner hatte seinen Freund auf dem Gewissen.
»Und den werden wir finden, Benito!« murmelte Curzio, als er wieder einmal vor der Marmorplatte auf dem Friedhof stand und über seine bisherigen Bemühungen Rechenschaft ablegte. Zuerst hatte er das von Benito eingestellte Dienstpersonal ausfindig gemacht und befragt. Keiner wollte etwas Verdächtiges bemerkt haben. Der Arzt, der den Totenschein ausgestellt hatte, reagierte eher ungehalten auf Curzios Frage, ob denn nicht auch Gift als Todesursache in Frage käme. Curzios Versuch, eineObduktion zu beantragen, scheiterte daran, daß er nicht antragsberechtigt war und die zuständigen Stellen keinen Anlaß für eine solche Maßnahme erkennen konnten. Die Polizei erklärte ihm, von tatsächlich begangenen Verbrechen so in Anspruch genommen zu werden, daß sie sich unmöglich um nicht begangene kümmern könne.
Curzio ließ sich durch diese Mißerfolge nicht entmutigen. Sie spornten ihn eher an, denn sie zeigten ihm, daß es auf ihn allein ankam. Der Mord an Benito würde nie aufgeklärt und gesühnt werden, wenn er nicht hartnäckig blieb. Irgendwann würde er ein erstes Indiz finden, das ihn dann zu weiteren führen würde, bis sich ein Verdacht ergab, über den niemand mehr hinwegsehen konnte. Ja, genau so würde es geschehen.
»Einverstanden, Benito?« fragte Curzio und klopfte an die Marmorplatte, hinter der die Leiche seines Freundes in einem Eichensarg lag. Er wartete ein wenig, hörte aber nur den Wind durch die Zypressen rascheln. Mit keinem konnte man so gut schweigen wie mit Benito. Er schwieg sogar, wenn man mit ihm reden wollte. Die längste zusammenhängende Äußerung, an die sich Curzio erinnern konnte, war: »Prost, Gianmaria, zum Wohl!«
Nein, viel hatte Benito nicht gesprochen, doch wehe, wenn er sich mal dazu entschloß. Er sah einen an, als könne er kein Wässerchen trüben, hustete, als hätte man ihm schon vor Jahrzehnten beide Lungenflügel herausoperiert und vielleicht noch ein paar tragende Knochen dazu, so schief stand er in der Gegend herum, und dann schoß er ein, zwei Worte hervor, die Curzio manchmal wünschen ließen, sein Geschwätz der letzten halben Stunde ungeschehen machen zu können. Man hatte es ihm nicht angesehen, doch Benito war ein schlaues Köpfchen gewesen. Und Humor hatte er, der war so trocken, daß man unbedingt einen Grappa nachschütten mußte. Oder zwei.
Das hatten Benito und er im Sommer ja auch oft genug getan, wenn sie am Kreuz vor dem Dorfeingang gesessenund übers Land geschaut hatten, über die Weizen-und Sonnenblumenfelder, über die Linien der Weinberge, die in sanftem Schwung die Hügel hinaufstiegen, und die überwachsenen Ruinen verlassener Bauernhöfe, in denen alle weggestorben waren, die mit ihnen aufgewachsen waren, bis hin zu den Häusern von Cabernardi, unter denen die Erde sechshundert Meter tief durchlöchert war wie Schweizer Käse, und noch weiter bis zu den Silhouetten der Berge, des Monte Acuto, des Monte Catria, deren Spitzen in den tiefblauen Himmel ragten.
Ruhig war es dort auf der Steinbank, himmlisch ruhig. Nichts hörte man von der Welt, nur das ferne Gebimmel von Luigis Herde, das Wogen des Getreides im Wind und ab und zu die eigene Stimme, wenn Curzio kontrollieren wollte, ob der neben ihm sitzende Sgreccia noch lebte, und ihn deshalb fragte: »Noch einen, Benito?«
Curzio lächelte. Sobald er seine Nachforschungen abgeschlossen hatte, würde er zum letztenmal auf den Friedhof gehen, sich vor Benitos Sargnische stellen und ihm seine ganz persönliche Abschiedsrede halten. Er würde ihm genau schildern, wie er den Fall gelöst hatte, er würde ihm auch sonst alles sagen, was zu sagen war, und Benito würde dazu schweigen, wie er meistens geschwiegen hatte, und dann würde Curzio langsam hinauf zur Steinbank am Ortseingang gehen, sich in den Herbstwind setzen und über die Äcker schauen, in die der Pflug tiefe Furchen gerissen hatte. Er würde wissen, wo sich der Monte Catria im Wolkengrau versteckte, er würde die Grappaflasche aus der Jackentasche ziehen und fragen: »Einen letzten, Benito?« Er würde einen Schluck für ihn nehmen und einen
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