Die Drachen von Montesecco
werden sollte, um der Abwanderung aus Montesecco entgegenzuwirken. Immer jedoch war mehr Geld nötig, als die Leute selbst besaßen. Die Sgreccias verbarrikadierten sich, so gut sie konnten, doch sobald sie ihr Haus verließen, hatten sie alle Hände voll zu tun, die an sie herangetragenen Investitionswünsche nicht allzu brüsk abzulehnen.
Einer der wenigen, die nicht in Zukunftsvisionen schwelgten, war Gianmaria Curzio, der nun der älteste Einwohner Monteseccos war. Wenn er auf sein Leben blickte, zählte die Vergangenheit deutlich mehr als das bißchen Zukunft, das ihm noch blieb und das hoffentlich ausreichte, um die eine Sache, die ihm noch wichtig war, zu Ende zu führen. Dafür mußte vielleicht auch er Montesecco von oben bis unten umkrempeln, aber Benitos Geld brauchte er nicht. Darauf pfiff er. Für ihn zählte nur, daß Benito Sgreccia sein Kumpel gewesen war.
Am Tag seines Todes hatte sich Curzio nicht in Montesecco aufgehalten. Er hatte bei einem Bekannten, der in Barbara ein Weingut besaß, den Abschluß der Lese gefeiert. Sie hatten geredet, gelacht, getrunken, während Benito sein Leben ausgehaucht und stundenlang tot in einem Liegestuhl auf dem Pfarrhausdach gelegen hatte. Curzio glaubte nicht an Übersinnliches, doch mußte man nicht spüren, wenn der beste Freund knapp fünfzehn Kilometer entfernt starb? Sollte es da nicht einen Stich im Herzen geben, sollte sich nicht ein Schatten vor die Augenlegen und ein ferner, leiser Seufzer im Kopf widerhallen? Aber Curzio hatte nichts dergleichen bemerkt. Er hatte gefeiert. Es war so spät geworden, daß er in einem Gästezimmer auf dem Weingut übernachtet hatte und gegen Mittag des folgenden Tages zurückgebracht worden war. Erst dann erfuhr er die Nachricht, erst dann sah er Benitos Leiche auf dem roten Ledersofa aufgebahrt.
Curzios erster Gedanke war, daß es sich um einen Irrtum handeln mußte. Benito konnte doch nicht so mir nichts, dir nichts gestorben sein. Einfach so, von einer Sekunde auf die andere! Diese eingefallene bleiche Haut über den Gesichtsknochen mußte irgendeinem anderen alten Mann gehören, der Benito nur ein wenig ähnlich sah. Selbst jetzt, Tage nach der Beerdigung, zweifelte Curzio noch manchmal, wenn er zum Friedhof hinabspazierte. Er würde sich nicht wundern, wenn eines Tages Benito neben ihm vor der Grabnische stünde, die Schrauben der Marmorplatte löste und sagte: »Mal sehen, wen sie da unter meinem Namen ins Loch geschoben haben!«
Curzios zweiter Gedanke war, daß Benito noch leben würde, wenn er selbst in Montesecco geblieben wäre. Sicher, er war weder Notarzt, noch konnte er Wunder vollbringen, doch vielleicht hätte es schon genügt, wenn er einfach dagewesen wäre. Benitos seltsames Verhalten in seinen letzten drei Tagen, die Nutten, die Tanzmusik, die Völlerei, das hätte ihm zu denken geben müssen. Er hatte Benito gegen die anderen, die ihn für verrückt hielten, zaghaft in Schutz genommen, doch er hatte nicht begriffen, daß Benito damit vielleicht mitteilen wollte, daß es mit ihm zu Ende ging. Curzio hätte ihn aufsuchen und ihm sagen müssen, daß er sich gefälligst ein wenig zusammenreißen solle, er wolle doch ihn, Curzio, nicht allein in Montesecco zurücklassen. Mit wem könnte er denn dann noch streiten? Und Benito hätte etwas Unverständliches zwischen den Zähnen hervorgebrummt, hätte die Nutten zum Teufel gejagt, und dann hätten sie beide sich noch einpaar Jährchen an der Bank vor dem Dorf treffen und ein paar Fläschchen Grappa vernichten können. Doch Curzio war nicht zur Stelle gewesen, als es darauf ankam.
Der dritte und wichtigste Gedanke erschöpfte sich nicht im Hätte, Könnte, Würde, er versank nicht in dumpfem Grübeln und schwarzer Verzweiflung, er löste die Lähmung, die Curzio befallen hatte, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Dieser Gedanke kam ihm erst spät. Leider so spät, daß die Spuren – wenn es denn welche gegeben haben sollte – schon längst beseitigt waren. Die Reste der Austern und Muscheln, die Benito vor seinem Tod gegessen hatte, faulten auf irgendeiner Mülldeponie, das Glas, aus dem er seinen letzten Schluck Wein getrunken hatte, war mehr als einmal gespült worden, und im Pfarrhaus waren so viele Füße herumgetrampelt, hatten so viele Finger so viele Gegenstände angefaßt, daß selbst eine Einheit von Spurensicherungsspezialisten nichts mehr damit anfangen könnte.
Nichtsdestotrotz hatte Gianmaria Curzio den Tatort genau inspiziert, er
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