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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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noch ein bescheidenes Tor, wertvolle Kunst war schon vor Jahrhunderten gestohlen worden, die Trüffeln waren in Aqualagna besser, der Wein in Jesi, die Schluchten in Furlo imposanter, die Höhlen in Frasassi, und das Meer war fünfunddreißig Kilometer und zig Ortschaften entfernt. Es gab nichts, was Montesecco auszeichnete. Nichts, was es unverwechselbar machte. Nichts, worauf man besonders stolz sein konnte.Es gab nicht viel, worauf sich eine corporate identity hätte gründen lassen.
    »Und deswegen«, sagte Dottor Andrea, der in Bologna und Harvard studiert hatte, »müssen wir etwas Neues schaffen.«
    Das leuchtete ein, warf aber die Frage auf, worin dieses Neue denn bestehen sollte. Donato schlug eine Sagra mit gastronomischen Spezialitäten vor. Als niemand begeistert reagierte, forderte er zusätzlich ein historisches Spiel mit Kostümen und Fahnenschwingern und Musik und allem Drum und Dran.
    »Willst du im Andenken an Napoleon jährlich Montesecco niederbrennen?« fragte Marisa spöttisch, und Donato selbst war klar, daß sein Vorschlag nichts Unverwechselbares schuf. Wer an einem beliebigen Sommerwochenende durch die Provinz fuhr, geriet in mindestens fünf Sagre und zwei Rievocazioni storiche. Auch weitere Ideen von Milenas Wellnessdorf bis hin zum Safaripark mit Giraffen und Zebras konnten nicht überzeugen, denn all das hatte mit Montesecco nichts zu tun.
    »Corporate identity«, erinnerte der Dottore sanft. Das schien das Stichwort für Ivan zu sein, der sich bis dahin überraschend zurückgehalten hatte. Jetzt stand er auf, ging zur Tür und forderte die anderen auf mitzukommen.
    Draußen auf der Piazzetta sammelten sie sich. Es hatte aufgeklart. Über die weiten Hügel, die vom Pflug aufgerissenen Äcker, die wie von Künstlerhand dazwischengestreuten Waldstücke schweifte der Blick bis zur Küstenlinie bei Marotta und zum blauen Strich des Meeres dahinter. Zum Greifen nah schienen die Mauern von Nidastore zu sein, das sich im Schutz der Kirche an den Hang gegenüber schmiegte. Ein Traktor tuckerte den steilen Feldweg zu Casavecchias Gärtnerei hinab. Den Flußlauf kennzeichnete ein Band noch kaum vom Herbst gefärbten Urwalds. Wer sich über die Steinbrüstung der Piazzetta beugte, konnte ins Friedhofsgeviert sehen. Die Spitzen der dort gepflanzten Zypressen bogen sich unter dem Wind nach Nordosten.
    »Macht die Augen zu!« sagte Ivan.
    Irgendwo schlug ein Fensterladen. Die Fahnen auf dem Pfarrhaus knatterten. Die Luft roch nach Erde und schmeckte ein wenig nach Pilzen.
    »Was spürt ihr?« fragte Ivan.
    Was sie spürten? Was sollte man schon spüren, wenn man mit geschlossenen Augen auf einer Piazzetta hoch über dem Umland stand? Nichts. Nichts weiter Bemerkenswertes.
    »Spürt ihr nicht den Wind?« fragte Ivan. »Wie er euch über die Haut streicht und durchs Haar fährt?«
    Gut, den Wind spürten sie schon. Es war der Libeccio, der sanft aus Südwesten blies. Über dem Apennin hatte er abgeregnet und bescherte jetzt der adriatischen Seite Italiens schönes Wetter und gute Fernsicht.
    »Der Wind, der die Landschaft formt«, sagte Ivan, »der die Pollen fliegen, die Drachen steigen läßt, der die Segel bläht, der durch Poesie und Lieder weht, der ein halbes Dutzend antiker Götter beschäftigt, der Energie liefert und …«
    »Daher weht der Wind«, sagte Marisa Curzio. »Du willst uns dein selbstgebautes Kraftwerk andrehen!«
    »Corporate identity«, sagte Ivan. »Montesecco wird das Dorf der Winde werden.«
    »Aber Wind gibt es doch überall«, wandte Franco ein.
    »Nicht so viel wie bei uns«, sagte Ivan, »höchstens in ein paar Orten, die auch ganz oben auf einer Bergkuppe liegen, aber …«
    »Arcevia, Montevecchio, Piticchio, Barchi, Montalfoglio …«, spöttelte Sabrina Lucarelli.
    »… aber viel wichtiger ist, daß noch keiner auf die Idee gekommen ist«, sagte der Dottore. »Vielleicht werden sie uns imitieren, aber Montesecco wird das Original sein. Wir sind die ersten und müssen nur entschlossen zugreifen.Wir krallen uns den Wind mit allem, was dazugehört. Der Rest ist eine Frage der Positionierung. Wenn alle dahinterstehen …«
    »Montesecco – das Dorf in den Lüften«, fiel Ivan ein.
    »Die Braut der Winde«, skandierte der Dottore.
    »Äolus’ Heim«, sagte Ivan.
    »Von Brisen umschmeichelt und sturmumtost«, flüsterte der Dottore.
    »Flieg, Montesecco, flieg!« rief Ivan begeistert aus.
    Man war nicht überzeugt, aber beeindruckt. Es klang durchaus machbar. Es schien

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