Die Drachen von Montesecco
mich, fragt ihr euch? Nun, weil es gar nicht um mich geht, nicht um meinen persönlichen Vorteil. Benito war nicht dumm, sonst hätte er kein solches Vermögen angehäuft. Und als er merkte, daß es mit ihm zu Ende ging, sah er sich um und fragte sich, wer als erster Diener Monteseccos am besten geeignet sei. Ich bin nicht unfehlbar, doch ich werde alles tun, um seinem Vermächtnis gerecht zu werden. Das wußte der alte Benito, und er wußte auch, daß dafür neben Pflichtbewußtsein und Ehrlichkeit auch Visionen, strategisches Denken und Arbeit, Arbeit, Arbeit nötig sind.«
Ivan hob das Glas, in das ihm Marta zwei Finger breit Brunello eingeschenkt hatte, prüfte die Farbe des Rotweins gegen das Licht der Neonröhren an der Decke der Bar und sagte: »Benito, ich werde dich nicht enttäuschen!«
»Vielleicht solltest du erst mal unsere Schulden zurückzahlen«, warf Marta ein.
Ivan würdigte seine Frau keiner Antwort. Er hatte nicht vor, sich die Größe des Augenblicks durch irgendwelche Alltagsprobleme madig machen zu lassen. Er hob das Weinglas ein weiteres Mal an und prostete den anderen zu. »Auf Benito Sgreccia! Auf Montesecco! Auf die Zukunft!«
»Zum Beispiel die deines eigenen Kindes«, sagte Marta. Ivan kippte den Brunello in einem Zug hinab, drehte das leere Glas zwischen den Fingern und warf es mit Schwunggegen die Nordwand der Bar. Die Scherben schlitterten bis zu den Füßen des Kickers neben der Tür.
Noch am Tag zuvor hätte man Ivans Sprüche mit einem Witz abgetan, doch bei einem Mann, der fünfeinhalb Millionen Euro in Aussicht hatte, verhielt sich das ein wenig anders. Außerdem mußte man zugeben, daß Ivan Garzone seine Mission mit Elan anpackte. Schon am übernächsten Tag lud er die Dorfgemeinschaft zu einer Informationsveranstaltung über das Projekt »Montesecco – 21. Jahrhundert« in seine Bar ein.
Hinter der Bierbank, die zum Konferenztisch umfunktioniert worden war, saß ein flott gekleideter Enddreißiger mit randloser Brille. Ivan stellte ihn als Dottor Andrea Soundso vor, der in Bologna und Harvard Marketing studiert habe und inzwischen in beratender Funktion für verschiedene internationale Großunternehmen tätig sei.
Der Dottore bestand darauf, nur mit dem Vornamen angesprochen zu werden – denn man sitze ja nun im selben Boot –, und tat kund, daß es für ihn eine sehr reizvolle Aufgabe sei, mal ein ganzes Dorf zu promoten. Nach kaum zehn Minuten Einleitung kam er zur Sache, die für ihn einen einzigen Namen trug: corporate identity .
»Was?« fragte Lidia Marcantoni.
»Ich denke, es geht um die Zukunft Monteseccos«, sagte Franco Marcantoni.
»Damit Montesecco eine Zukunft hat«, sagte der Dottore, »müssen die Menschen zuwandern, nicht abwandern. Es muß Geld hierherfließen, es müssen Arbeitsplätze, Freizeit-und Kulturangebote geschaffen werden, die Touristen müssen strömen, Infrastruktur muß bereitgestellt werden. Aber, frage ich euch, warum soll das gerade in Montesecco passieren? Warum nicht in …?« Er blickte hilfesuchend zu Ivan.
»In Nidastore oder San Pietro oder Castelleone di Suasa oder …«, sagte Ivan.
»… oder sonstwo«, sagte der Dottore. »Es gibt Hunderte von Dörfern in den Marken, Tausende in Italien. Was hebt gerade Montesecco unter all diesen hervor? Was macht Montesecco lebenswert und attraktiv? Was macht es unverwechselbar?«
Er blickte von einem zum anderen. Die Bewohner Monteseccos hatten sich das noch nie gefragt. Die meisten saßen auf Klappstühlen an wackligen, holzfurnierten Tischen. Ein paar der Jungen lehnten hinten an der Wand, zwischen den Fotos von irgendeinem längst vergangenen Dorffest und den beiden blinkenden Glücksspielautomaten, die Ivan mit dem letzten Kredit angeschafft hatte.
»Wir haben Geschichte«, sagte Milena Angiolini zögernd. »Wahrscheinlich ist Montesecco schon in römischer Zeit gegründet worden …«
»Ja, von Suasa aus«, sagte Sabrina Lucarelli, »und im Umkreis von ein paar Kilometern gibt es garantiert zehn ältere Orte.«
»Unsere Kirche …«, sagte Lidia Marcantoni.
»Die in Nidastore ist wenigstens nicht von Napoleon abgebrannt worden«, sagte Franco.
»Und deswegen haben die in Nidastore auch keine Christusstatue, die durch ein Wunder das Feuer überstanden hat«, trumpfte Lidia auf.
»Und wieso pilgert keiner hierher, sondern alle zur Madonna nach San Pietro?« fragte Franco hämisch.
Vom Kastell stand im Gegensatz zu den prächtigen Anlagen in San Lorenzo und Mondavio nur
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