Die Drachen von Montesecco
Türen abgesperrt und die Fensterläden verrammelt, doch irgendwo mußte Minh ein Schlupfloch gefunden haben. Das ließ sich leicht nachprüfen. Zu jedem der Häuser war bei irgendeinem Nachbarn ein Schlüssel für eventuelle Notfälle hinterlegt worden. Und wenn das kein Notfall war!
Vannoni und die Lucarellis machten sich auf, hinaus in die Nacht. In die fahl erleuchteten Gassen, durch die der Wind pfiff und nach einem offenen Fenster oder einer angelehnten Dachluke suchte, die einem kleinen Jungen Einlaß gewähren könnte. Natürlich warf sich jeder Nachbar, bei dem sie anklopften, eine Jacke um und kam mit, so daß bald ganz Montesecco auf den Beinen war. Schnell hatte man die Schlüssel beisammen, nur Angelo Sgreccia konnte den zum Haus des Americano nicht finden. Er hatte den Schlüssel nie benutzt, war sich aber ganz sicher, ihn an einen Haken neben seiner Eingangstür gehängt zu haben, als der Americano abgereist war.
Der Americano war schon vor über vierzig Jahren nach Detroit ausgewandert, wo er es zu zwei Pizzerien und einem Vorstadtbungalow mit Doppelgarage gebracht hatte. Seit er nicht mehr arbeitete, schleppte er Jahr für Jahr seine Frau nach Montesecco, die sich von Anfang Juni bis Anfang September entsetzlich langweilte, während er mit seinen Jugendfreunden Briscola spielte. Neun Monate im Jahr stand das Haus leer.
»Weiß jemand, ob der Americano einen Globus hat?« fragte Vannoni. Franco Marcantoni nickte. Zur Sicherheit wurden ein paar Leute losgeschickt, um die Häuser zu kontrollieren, deren Schlüssel verfügbar waren, doch sie kamen schnell zum Haus des Americano zurück, wo sich der Rest versammelt hatte und beratschlagte, wie man am besten die Tür aufbrechen sollte. Da keiner die Geduld hatte, am Schloß herumzufummeln, setzten Ivan und Donato ein Stemmeisen an und sprengten die Tür mit Gewalt.
Das Licht sprang sofort an, die Hauptsicherung war nicht ausgeschaltet. In einem kleinen Zimmer unter dem Dach, das sich der Americano aus unerfindlichen Gründen als Arbeitszimmer eingerichtet hatte, fand sich der Globus. Er stand unter dem Schreibtisch und war noch eingesteckt. Daneben, zu einem fast leeren Aktenregal hin, lagen eine Wolldecke und das Sitzkissen des Schreibtischstuhls auf dem Boden. Wenn man sich dort auf den Rücken legte, konnte man durch das Fenster in der Dachschräge den Sternenhimmel beobachten.
Die anderen Zimmer schienen völlig unberührt. Nur in der Küche waren Abfall und Essensreste zu finden, die sicher nicht der Americano hinterlassen hatte: frisch geleerte Einmachgläser, die nach Birnen-und Pflaumenkompott rochen, andere, die noch Fasern von eingelegten Carciofini erkennen ließen, zwei leere und eine angebrochene Packung Zwieback, drei aufgedrehte Sardinendosen, in denen das Öl stand, eine zerknüllte Schachtel Amarettini, ein Glas fast vollständig ausgelöffelte Erdbeermarmelade und ein paar Teller mit verkrusteten Resten von Tomatensugo. Es sah nicht so aus, als ob der Herd benutzt worden wäre.
»Mein Gott!« sagte Catia. Sie setzte sich auf einen Küchenstuhl. Man konnte sich vorstellen, was sie dachte. Daß ihr Haus keine fünfzig Meter Luftlinie von hier entfernt lag. Minh hätte es gehört, wenn sie laut nach ihm gerufen hätte. Aber sie hatte nicht. Und ihr Sohn hatte tagelanghier gesessen, ohne sich zu rühren. Allein, in einem dunklen, verrammelten Haus, wo er Zwieback mit kalter Tomatensoße gegessen hatte.
»Ihr habt doch das ganze Dorf durchsucht«, sagte Catia schwach.
»Die Tür war abgesperrt«, sagte Franco. »Die Fensterläden waren fest verschlossen.«
»Wir haben geklopft und gerüttelt«, sagte Donato.
»Wer konnte denn ahnen, daß er den Schlüssel nehmen und sich einsperren würde«, sagte Elena Sgreccia.
»Einen Trost haben wir immerhin«, sagte Antonietta. »Matteo hat recht gehabt: Minh wurde nicht entführt.«
Fast erleichtert stimmte man ihr zu. Niemand hätte Minh gegen seinen Willen hier mitten im Dorf festhalten können, ohne daß das bemerkt worden wäre. Man hätte ihn rund um die Uhr unter Kontrolle halten müssen. Nur ein Moment der Unaufmerksamkeit hätte genügt, und der Junge hätte um Hilfe rufen oder ein Fenster aufreißen können. Niemand aus Montesecco war tagelang abgetaucht gewesen, und Fremde hatte man weder kommen noch gehen sehen. Außerdem konnten die nicht wissen, wo der Schlüssel zum Haus des Americano zu finden war. Nein, Minh hatte sich freiwillig hier versteckt.
Nur Catia schüttelte den
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