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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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durchsetzen.
    Die Kontrolle erringen.
    Macht ausüben.
    Eins ging wie von selbst ins andere über. Er hatte gemeint, diese Mechanismen durchschaut zu haben und nicht mehr darauf hereinzufallen. Er hatte geglaubt, begriffen zu haben, daß damit alle Menschlichkeit verlorenging. Daß dadurch und nur dadurch die Revolte in den siebziger Jahren gescheitert war. Erstickt in Blut und Blei auf der einen Seite, in Karrierismus auf der anderen.
    Und doch brauchte es nur den spöttischen Blickwechsel zwischen einem zwanzig-und einem zweiundzwanzigjährigen Mädchen, um all diese Einsichten wegzupusten. Vielleicht hatte er unrecht gehabt. Vielleicht war das Streben nach Macht nur natürlich. Vielleicht ging es gar nicht ohne. Sogar für jemanden, der nichts anderes wollte, als den Rest seiner Tage mit der Frau, die er gefunden hatte, in Harmonie, Seelenfrieden und Liebe zusammen zu leben.
    Während die Mädchen ihre Jacken holten, breitete Vannoni eine Landkarte auf dem Tisch aus. Sie war im Maßstab 1:100 000 gezeichnet und ermöglichte durch Höhenlinien und topographische Farbgestaltung eine gute Vorstellung auch von den entfernteren Gebieten, die man nicht aus dem Effeff kannte. Vannoni holte sich einen Bleistift. Er begann Zonen zu markieren.
    »Wenn Minh wirklich absichtlich weggelaufen ist, sollten wir uns eher fragen, was in seinem Kopf vorgegangen ist«, sagte Antonietta.
    Vannoni starrte auf die Karte, sah die grünen Schattierungen, die gewundenen Höhenlinien, entlang deren die Straßen liefen, wenn sie sie nicht in Serpentinen schnitten. Ein verwirrendes Muster, kaum weniger kompliziert als die Vorstellungswelt eines verschlossenen Achtjährigen. Antonietta hatte recht. Es hatte keinen Sinn, die Welt in Planquadrate einzuteilen, wenn es darum ging, einen Menschen wiederzufinden. Vannoni faltete die Karte zusammen. Sie setzten sich alle um den Küchentisch und versuchten sich in einen kleinen Jungen hineinzuversetzen. Was hatte ihn bewegt? Enttäuschung über die Mutter, von der er sich abgeschoben fühlte? Das Gefühl der Verlorenheit, der Unwille, sich bei den Lucarellis einzufügen? Hatte ihn Wut, Schmerz oder Verzweiflung weggetrieben?
    »Als wir damals nach dem Tod von Papa abhauen wollten«, sagte Sabrina, »hatte ich keine Vorstellung, wohin. Ich wollte nur weg, wollte keinen mehr sehen und nie mehr gefunden werden.«
    »Wir kamen ja nur bis zum Tor, wo wir die tote Viper fanden und dann von Ivan aufgelesen wurden«, sagte Sonia, »aber vom Gefühl her war es ein Abschied für immer. Oder zumindest für so lange, bis ich in der Fremde mein Glück gemacht hätte. Erst dann wollte ich zurückkehren, um Montesecco zu zeigen, wie erbärmlich es war.«
    »Wir hatten nichts geplant, hatten nichts zu essen dabei, keine Decke, keinen Regenschutz, wir wollten nur fort und keine Sekunde länger in diesem Dorf bleiben«, sagte Sabrina.
    Vannoni erinnerte sich, daß es auch am Tag, als Minh verschwunden war, zu regnen begonnen hatte.
    »Aber Angst vor der Fremde hatten wir schon«, sagte Sonia, »ich zumindest. Und damals war ich drei Jahre älter, als Minh jetzt ist.«
    »Und ihr wart zu zweit«, sagte Antonietta.
    »Zweieinhalb. Ich wollte unbedingt den Hund mitnehmen.« Sonia lachte auf. »Wenn ich daran denke! Der kleine Beppone zog ja schon vor seinem eigenen Schatten den Schwanz ein. Welch ein toller Schutz!«
    »Aber er war dir vertraut«, sagte Sabrina. »Minh hat keinen Hund.«
    Vannoni hörte zu. Er versuchte sich vorzustellen, wie Minh die Straße entlanggetrippelt war. Wie seine Entschlossenheit, nie mehr zurückzukehren, mit jedem Schritt abnahm. Wie er bemerkte, daß sich Gewitterwolken über ihm ballten. Wie er schwankte, ob er aufgeben sollte, und sich trotzig ins Gedächtnis rief, daß ihn in Montesecco eh niemand schätzte. Wie er dennoch nach Sicherheit verlangte, vor dem Regen, vor der Angst, vor der Ungewißheit.
    »Ein Versteck«, sagte Vannoni. Er war plötzlich sicher, daß Minh sich in einem Schlupfwinkel verkroch, den er schon lange kannte und an dem er sich deswegen geborgen fühlte. An einem Platz, der nur ihm gehörte, aber leicht erreichbar sein mußte. Minh befand sich ganz in der Nähe! Nur wo? Vielleicht hatte Minh mal eine Andeutung gemacht. Man mußte Catia fragen. Man mußte jeden fragen, der den Jungen kannte.
    Sie standen auf, schwärmten aus, starteten von einem neuen Ansatzpunkt, der zu neuem Schwung verhalf. Kein Vergleich zu der stumpfen Beharrlichkeit, mit der sich Vannoni durch

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