Die Drachen von Montesecco
nicht. Ich kümmere mich um dich, ich rede mit dir, ich beschütze dich vor dem schwarzen Mann, und ich gebe dir zu essen.«
Ich hielt dem Jungen das Panino hin. Er ergriff es mit beiden Händen und biß hastig hinein.
»Wie sagt man?« fragte ich.
»Danke«, sagte der Junge.
Auf der Hügelkuppe und fast schon am Ortsrand von Montesecco, da, wo man sowohl ins Cesano-als auch ins Nevola-Tal hinabschauen konnte, wenn nicht grauer Nebel die Flußtäler einebnete, lag Costanza Marcantonis Häuschen. An der Ostseite war ein Schuppen angebaut, dessen Wellblechdach gegen den Wind mit dicken Feldsteinen beschwert war. Daneben stand eine defekte Straßenlaterne, über die wie zum Hohn die Stromleitung führte, die ganz Montesecco versorgte. Sie endete in einem Betonturm, mit dem die ENEL vor einigen Jahren den Kirchturm als höchstes Gebäude des Ortes entthront hatte.
Noch etwas höher ragte allerdings die Akazie auf, die entweder vom Großvater der Marcantoni-Geschwisteroder aber vom ebenfalls lange verstorbenen Don Igino, der als Gemeindepfarrer zweiundfünfzig lange Jahre Montesecco beherrscht hatte, gepflanzt worden war, und zwar – das wußte man genau – am Tag, als die Glocken das Ende des Ersten Weltkriegs verkündeten. Mit seiner weit ausladenden Krone bildete der Baum den Scheitelpunkt der Silhouette Monteseccos, von dem aus sich die Flucht der Dächer nach unten rundete. Drei Generationen hatte die Akazie Schatten gespendet, kein Blitz hatte sie fällen können, allen Stürmen hatte sie getrotzt und wahrscheinlich Hunderten von Vögeln Nistplätze geboten.
Doch nicht deswegen standen die Bewohner Monteseccos um ihren Stamm und starrten hinauf. Fluchend versuchten Donato und Ivan Garzone, eine lange Leiter so durch das Astwerk zu bugsieren, daß man an den Papierdrachen gelangen konnte, der sich in den äußeren Zweigen verfangen hatte. Es war ein hellgrüner Drachen. Das Grün stach fast schmerzhaft von den dunkleren Akazienblättern ab und entsprach genau dem Farbton des Drachens, den Minh mit sich geführt hatte, als er zum letztenmal gesehen worden war.
Die Leine des Drachens glitzerte wie ein Spinnenfaden in der Sonne. In sanftem Schwung führte sie nach unten und schlang sich zweimal um die Straßenlaterne. Die Spule hing zum Boden hinab. Natürlich hatte man versucht, den Drachen mittels der Leine zu befreien, doch alles Ziehen und Rütteln, alles Hin und Her hatte nichts genützt. Der Drachen hing eisern fest, er war tot, wie man gesagt hätte, hätte nicht Catia Vannoni mit starrem Gesicht in der Gruppe gestanden.
»Ich verstehe den Jungen nicht«, sagte Elena Sgreccia. »Erst verkriecht er sich tagelang beim Americano, dann verschwindet er, kurz bevor wir sein Versteck finden, treibt sich wer weiß wo herum, kommt zurück, um mitten in der Nacht seinen Drachen im Dorf steigen zu lassen, und ist wieder wie vom Erdboden verschluckt.«
»Der Kleine hält uns zum Narren«, brummte Franco Marcantoni. Er war hörbar schlechter Laune und sah aus, als habe er die ganze Nacht kein Auge zugetan.
»Als ob wir nichts anderes zu tun hätten, als mit ihm Versteck zu spielen«, rief Ivan herüber. Er prüfte den Sitz der Leiter, die Donato und er an einem festen Ast angelegt hatten.
»Wir sollten nun endlich die Polizei einschalten«, sagte Marisa Curzio.
»Nein, nicht die Polizei«, sagte Catia Vannoni.
»Die sollen ein paar Hundertschaften schicken und ihn suchen«, sagte Ivan. »Wozu blechen wir denn unsere Steuern?«
»Du vor allem«, sagte Angelo Sgreccia spöttisch. Jeder wußte, daß Ivan mit seiner Bar seit Jahren rote Zahlen schrieb.
Ivan holte tief Luft. »Wenn mal der Windpark steht und …«
»Hört auf!« unterbrach Marta Garzone. Sie wandte sich an Catia: »Wieso keine Polizei? Wenn es keine Entführung gegeben hat, schwebt Minh ja auch nicht in Lebensgefahr. Da sollten wir doch alle Möglichkeiten ausschöpfen, und die Polizei hat nun mal …«
»Er kommt schon zurück«, sagte Catia dumpf.
»Du kannst doch nicht warten, bis dein Sohn mal die Lust verliert, uns an der Nase herumzuführen«, protestierte Franco.
»Er braucht nur ein wenig Zeit«, sagte Catia.
Kopfschüttelnd nahm Ivan einen Besenstiel und begann die Leiter hochzuklettern. Donato hielt unten fest.
»Hör zu, Catia!« sagte Milena Angiolini. »Jeder hat verstanden, daß du nichts riskieren willst, was Minh gefährden könnte, aber nun hat sich die Situation doch völlig geändert.«
»Er ist mein Sohn«, fuhr Catia
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