Die Drachen von Montesecco
auf, »und ich will keine Polizei. Basta!«
Eng an die Leiter gepreßt, schob sich Ivan durch das Astwerk. Er gelangte nicht bis auf Griffweite an den Drachen heran, doch er konnte ihn mit Hilfe des Besenstiels befreien.
Marisa zog an der Leine, und der Drachen kam im Sturzflug herab. Ivan ließ den Besenstiel fallen und stieg dann vorsichtig ab.
Catia war zuerst bei dem Drachen. Sie hob ihn so sanft auf, als wäre er ein schlafendes Kind, das sie ins Bett tragen wollte, ohne es aufzuwecken.
»Und? Ist es der von Minh?« fragte Marisa. Sie spulte die Leine auf.
Catia nickte. Sie nahm Marisa die Spule aus der Hand und wandte sich zum Gehen, doch Milena hielt sie auf. Sie zeigte auf das grüne Seidenpapier. »Da hat doch jemand etwas daraufgeschrieben.«
»Das war Minh«, sagte Catia. »Er kritzelt öfter auf seinen Drachen herum.«
»Wahrscheinlich wünscht er uns viel Spaß beim Kleine-Jungen-Suchen«, raunzte Franco.
»Laß mal sehen!« sagte Elena Sgreccia. Sie griff nach dem Drachen. Catia hielt ihn fest, doch sie kam nicht mehr weg. Alle umringten sie und blickten auf das Seidenpapier hinab. Mit schwarzem Filzstift stand quer darüber gekrakelt: Juventus gegen Milan 2:0.
»Ist das Minhs Schrift?« fragte Marisa.
»Von wem sonst?« fragte Catia gereizt. »Es ist sein Drachen.«
»Ich wußte gar nicht, daß er sich für Fußball interessiert«, sagte Milena.
»Warum nicht?« fuhr Catia auf. »Er ist ein Junge. Jungen interessieren sich für Fußball. Wieso sollte gerade er anders sein? Was soll das überhaupt heißen, daß Minh sich nicht für Fußball interessiert? Was willst du damit sagen, Milena?«
»Ich habe mich ja nur gewundert«, sagte Milena.
»Das Spiel war gestern abend«, sagte Donato. »Ich habe es im Fernsehen gesehen. Beide Tore hat Nedwed gemacht. Der Mann ist ganz große Klasse.«
Niemand interessierte sich im Moment für die Fußballstars der Serie A. Man fragte sich, wo der Junge das Spiel gesehen haben mochte. Und warum um alles in der Welt er das Ergebnis auf seinen Drachen geschrieben hatte, bevor er ihn mitten im Dorf in den höchsten Baum fliegen ließ. So als wolle er allen zeigen, daß er mitbekam, was in der Welt passierte.
»Blödsinn«, sagte Catia. »Das hat mit dem Spiel gestern gar nichts zu tun. Minh hat schon viel früher mal auf dem Drachen herumgekritzelt.«
»Zwei zu null für Juve, das gab es seit Jahren nicht«, sagte Donato.
»Er ist Juve-Fan«, sagte Catia tonlos, »er hat vielleicht gehofft, daß …«
»Hör auf, Catia!« sagte Marisa. »Du weißt genau, daß es sich um ein Lebenszeichen handelt. Er will zeigen, daß er wohlauf ist. Daß er gestern abend nach dem Fußballspiel noch wohlauf war.«
»Dazu bräuchte er doch bloß aus seinem Versteck zu kommen und an Catias Tür zu klopfen«, sagte Donato.
»Und wenn er nicht kann?« fragte Milena.
»Den Drachen konnte er ja auch steigen lassen.«
»Wer sagt denn, daß er das war«, sagte Marisa. »Und das Fußballspiel muß er auch nicht gesehen haben.«
»Vielleicht hat ihm einer das Ergebnis diktiert«, ergänzte Milena.
»Irgendeiner, der beweisen will, daß Minh noch lebt«, sagte Marisa.
Der Drachen war ein einfacher, selbstgebastelter Kometdrachen. Er bestand aus zwei über Kreuz gelegten Holzstäben, die mit Seidenpapier bespannt waren. Am Ende des kurzen Schwanzes klebte ein grünes Papierdreieck. Der Drachen war ein Spielzeug, wie es die Kinderschon seit hundert Jahren bastelten und in die Lüfte steigen ließen, wenn die Winde wehten. Zwar änderten sich die Zeiten, und auch in Montesecco geriet alles durcheinander, doch über eines brauchte man nicht zu diskutieren: Kinderspielzeug sollte Kinderspielzeug bleiben. Es war nicht recht, daß ein Entführer es mißbrauchte, um mitzuteilen, daß sein Opfer noch lebte.
»Catia?« fragte Marisa Curzio.
»Ich sagte doch: keine Polizei!« Catia fuhr mit den Fingerspitzen über das Seidenpapier. An einer Stelle war es eingerissen.
»Das hast du schon gesagt, bevor Ivan den Drachen aus dem Baum holte«, sagte Marisa.
»Du wußtest es vorher«, sagte Elena Sgreccia.
»Ich wußte gar nichts«, sagte Catia schnell, »aber als Mutter spürt man so etwas.«
»Ein Lebenszeichen, aber nicht die kleinste Anweisung für die Übergabe des Lösegelds«, wunderte sich Milena. »Umgekehrt wäre es logischer. Der Entführer müßte dir zuerst mitteilen, wo und wann du das Geld abliefern sollst. Ich an deiner Stelle würde dann, bevor ich zahle, einen Beweis
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