Die Drachenflotte (German Edition)
schaute sich um. Am westlichen Horizont konnte er einen Trawler erkennen und weit im Süden eine Piroge. Das war alles. Die Yvette hatte nicht mehr viel Treibstoff, aber es blies ein ganz ordentlicher Wind aus Süd. Er zog seinen Taucheranzug aus, setzte das Großsegel und fuhr in tieferes Gewässer hinaus. Er nahm sich den Bootshausschlüssel von Boris, ließ die Luft aus seiner Tarierweste und der Sauerstoffflasche ab, beschwerte den Bleigurt mit so viel Blei wie möglich und legte ihn Boris um. Dann fasste er ihn um den Brustkorb, zog ihn hoch und ließ ihn ins Wasser gleiten.
Er beobachtete die aufsteigenden Blasen, bis ihre Spur versiegte. Dann blickte er noch eine Weile aufs Wasser hinaus. Wenn dies Rache war, so schmeckte sie weiß Gott nicht süß. Er wollte nichts mehr davon wissen. Er segelte noch ein Stück weiter, legte dann Gewichte in Boris’ Tasche und übergab sie ebenfalls dem Meer. Als er den Laptop hochnahm, fragte er sich, wie die Nergadses reagieren würden. Gar nicht, vermutete er. Doch die Entscheidung lag bei Sandro, nicht bei ihm. Er hielt den Laptop über das Wasser und ließ ihn fallen. Dann setzte er sich ins Heck, wendete die Yvette und hielt auf die Küste zu.
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Kapitel 44
I
R ebecca war nicht in der Verfassung, Auto zu fahren. Deshalb setzte sich Andriama hinter das Lenkrad des Toyota, einer seiner Männer folgte in einem Polizeifahrzeug. Nichts schien ihr wie vorher zu sein, alles fremd und irreal. Sie drückte die Hände zwischen ihre Knie und erinnerte sich, wie Pierre vor einer Woche angerufen hatte und sie so sicher gewesen war, Adam und Emilia lebend zurückzuholen, dass reine Willenskraft ausreichen würde.
Aber so war das Leben nicht.
Sie erreichten Tsiandamba am späten Nachmittag. Dorfbewohner standen an der Straße und starrten Rebecca mit Trauermienen an, hinter denen sich Neugier und Spannung nicht ganz verstecken ließen. Vor einer weiß getünchten kleinen Kirche, dem imposantesten und kühlsten Gebäude des Dorfes, hielten sie an. Rebecca war so wacklig auf den Beinen, dass Andriama ihr aus dem Auto helfen musste. Sie hielt sich an seiner Schulter fest, als sie zusammen den hohen, dunklen Innenraum der Kirche betraten. Sie musste blinzeln, ehe ihre Augen sich an das düstere Licht gewöhnten. Rechts von ihr hing ein großes aus Holz geschnitztes Kruzifix an zwei Ketten von dem Dachbalken über dem Altar herab. Durch schmale Milchglasfenster fielen zwei schräge Lichtbögen auf den rot gefliesten Boden. Zu ihrer Linken, an der hinteren Mauer, hatte man Bänke zu einem niedrigen Tisch zusammengeschoben, auf dem, von einem Altartuch bedeckt und dennoch unverkennbar, ein menschlicher Körper lag. Eine Schale mit duftenden Blütenblättern stand darunter und an jeder Ecke ein Glas, in dem ein Räucherstäbchen brannte.
Andriama ging näher und hob das Altartuch an. Er wandte sich ihr zu und nickte niedergeschlagen.
Sie holte tief Atem. «Wer?»
«Ihr Vater.» Er ließ das Tuch wieder sinken.
Sie trat vor, stolperte über die Kante irgendeines Teppichs. Andriama hielt sie, versuchte halbherzig, sie zurückzuhalten, aber sie drängte sich an ihm vorbei. Jetzt, da sie das Schlimmste wusste, waren ihre Hände ruhig. Sie zog das Altartuch bis zu seinen Schultern herab und blickte zu ihm hinunter. Es war so vertraut, trotz der elf Jahre, trotz der aufgedunsenen Züge. Sein Körper war leicht nach oben gewölbt, als wäre er durch einen Stromschlag ums Leben gekommen, aber die Krümmung war nur auf den beengenden Neoprenanzug zurückzuführen. Sein Gesicht und sein Hals hatten an einigen Stellen offene Risse, sonst war die Haut blass, mit blauen, grünlichen und gelblichen Schatten, die darauf schließen ließen, dass er seit Tagen tot war.
Ein strenger Geruch stieg zu ihr auf, Salzwasser und beginnende Verwesung, markant eher als unangenehm oder überwältigend, gedämpft vom Duft des Weihrauchs und der Blüten. Ein Tropfen fiel herab und bildete einen grauen Kreis auf dem weißen Altartuch, das schnell beinahe durchscheinend wurde. Erst da merkte sie, dass sie weinte. Andriama legte ihr behutsam die Hand auf den Rücken. Sie entzog sich seinem Trost, ging auf die andere Seite ihres Vaters hinüber und schlug das Tuch bis zu seiner Körpermitte zurück. Seine Arme lagen ausgestreckt zu beiden Seiten, am rechten Handgelenk trug er einen GPS-Empfänger, am linken eine Taucheruhr und etwas, das aussah wie eine Handschlaufe für eine Kamera, nur war
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