Die Drachenflotte (German Edition)
Schritte, bevor er sich umdrehte, und da sah er ihn die rissigen Stufen zu einer lokalen Bank hinaufeilen. Es war Knox, für Boris gab es keinen Zweifel. Er brauchte nur diese sportlich lockeren Bewegungen zu sehen, den Schnitt der Kinnpartie, den Haaransatz. Das reinste Gottesgeschenk. Es konnte Tage, ja Wochen dauern, bevor sich ihm eine ähnlich gute Chance bieten würde.
Aber wie sie nutzen, ohne dabei erwischt zu werden?
Die Zeit war zu knapp, um Davit zu holen – aber der wäre bei so einem Job ohnehin keine Hilfe. Er griff an seine Tasche, um sich zu vergewissern, dass er sein Fotohandy bei sich hatte. Er würde auf jeden Fall ein paar Aufnahmen machen müssen, um Ilja zufriedenzustellen. Und während in seinem Kopf ein Plan reifte, lief er schon zurück zu dem Campingladen. Dort kaufte er ein Jagdmesser mit einer fünfzehn Zentimeter langen gezahnten Klinge, einen kleinen Rucksack, ein Baseballcap und eine Zeltbodenplane. Er packte Buch und Karte in den Rucksack und setzte ihn auf. Nachdem er die Bodenplane aus der Verpackung genommen hatte, schüttelte er sie aus und legte sie sich über die linke Schulter, um sie bei Bedarf sofort zur Hand zu haben. In einem Schaufenster prüfte er sein Aussehen, zog den Schirm der Mütze tief über die Augen und ging zurück zur Bank. Auf der Straßenseite gegenüber lehnte er sich an eine Mauer, um von dort aus die Haupttür der Bank im Auge zu behalten.
Dann wartete er.
[zur Inhaltsübersicht]
Kapitel 10
I
E s hatte in den vergangenen Monaten Momente gegeben, in denen Davit Kipshidse ernsthaft an Selbstmord gedacht hatte. So widersinnig es war, im Gefängnis in Griechenland war er ganz zuversichtlich gewesen. Damals hatte er noch Hoffnung gehabt. Die Nergadses hatten ja versprochen, ihn dort herauszuholen und in die Heimat zurückzubringen. Und sie hatten ihr Versprechen auch gehalten, aber seither war ihm aufgegangen, dass er niemals in sein altes Leben zurückkehren konnte, und dieses neue Leben, in dem er sich jetzt zurechtfinden musste, verabscheute er. Von Natur aus gesellig, brauchte er Freunde und Familie um sich. Aber die Polizei überwachte seine Freunde und seine Familie, um ihn sofort zu schnappen, falls er sich bei ihnen sehen ließ. Er konnte es um ihret- und seiner selbst willen nicht riskieren, sie aufzusuchen. Deshalb saß er oft tagelang allein in seiner kleinen Erdgeschosswohnung vor dem Fernseher und horchte nervös auf jedes vorüberfahrende Auto und die Stimmen der Leute, die draußen vorbeigingen.
Auf der Veranda seiner Strandhütte sitzend, blickte er über den schimmernden weißen Sand hinweg zu den sanften Brandungswellen des Meeres. Wie gut tat die Sonne nach dem langen Winter. Wie gut tat es, nicht ständig das Klopfen an seiner Tür fürchten zu müssen.
Claudia kam mit frischer Bettwäsche und einem Besen um die Ecke der Hütte. Sie lächelte ihm zu, bevor sie hineinging, um sein Bett zu beziehen. Er stand auf und folgte, um ihr zuzusehen. Der Blick aufs Meer war wohltuend, aber mit der belebenden Gegenwart einer hübschen jungen Frau konnte er nicht konkurrieren. «Woher kannst du eigentlich so gut Englisch?», fragte er.
Sie drehte sich nach ihm um. «Ich leben bei freundlicher amerikanischer Familie», antwortete sie, hielt die rechte Hand hoch und spreizte die Finger. «Fünf Jahre.»
«In Amerika?» Er runzelte die Stirn.
«In Toliara», erklärte sie. «Große Stadt im Süden von hier. Sie haben dort großes, großes Haus für Kinder, die keine Mutter und keinen Vater haben.»
«Ein Waisenhaus?»
«Ja. Ein Waisenhaus.»
«Das tut mir leid», sagte er.
«Warum?», entgegnete sie verwundert. «Ist schön dort. Sie fromme Leute und sehr gut, sie haben immer zu essen.» Sie bekräftigte die glücklichen Erinnerungen mit einem Nicken. «Mir dort sehr gut gefallen.»
«Warum bist du dann weg?»
Sie verzog das Gesicht halb spöttisch, halb bekümmert. «Ich zu alt geworden. Viele Kinder brauchen Zuhause, nicht genug Betten.» Sie sah ihn ein wenig einfältig an. «Jetzt alles Arbeit, Arbeit, nichts als Arbeit.»
«Tatsächlich?» Er lachte.
Sie lachte mit ihm und streckte ihm die Zunge heraus. Ihre oberen Schneidezähne standen etwas schief und lagen an den Enden leicht übereinander wie die Fesseln einer sittsamen Braut. Ihm wurde warm ums Herz. Die Gesellschaft einer hübschen Frau hatte ihm in den letzten zwei Jahren bitter gefehlt.
Als sie sein Bett fertig gemacht hatte, griff sie zum Besen, um die Hüte auszufegen.
Weitere Kostenlose Bücher